Untote leben länger. Philip Mirowski
Parteien, die in der Literatur meist deutlich mehr Berücksichtigung finden. Doch zumindest für den Zeitraum bis zu den Achtzigerjahren – als der Vormarsch neoliberaler Ansichten und somit der Erfolg der ursprünglichen Netzwerke die Zahl der selbsternannten Stammväter des Neoliberalismus rapide steigen ließ – lässt sich das MPS-Netzwerk als hinreichend präzise Chiffre für das neoliberale Denken in seiner Entstehungsphase verwenden.
In der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ist die Bedeutung der MPS weniger klar. Auch wenn detaillierte Untersuchungen noch ausstehen, erscheint sie von außen betrachtet nicht mehr wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als ein Treibhaus utopischer Entwürfe und rigoroser Debatten, die in einem nächsten Schritt an die äußeren Schichten der russischen Puppe übermittelt werden. Ein Teil des Problems besteht offenbar darin, dass die Mitgliedschaft in der MPS mit dem politischen Erfolg der Neoliberalen zu einer Art Prestigeobjekt geworden ist, das namentlich von reichen Müßiggängern mit intellektuellen Ambitionen geschätzt wird. Während sich ihre Zusammensetzung zugunsten von gewöhnlich eher in Davos oder einem exklusiven Club von Reichen anzutreffenden Personen verschob, büßte die MPS tendenziell ihre Rolle als hochdynamischer Debattierclub ein. Diese Funktion übernehmen heute offenbar eher äußere Schichten der Puppe wie bestimmte akademische Zentren und die großen etablierten Denkfabriken. Bei Einsetzen der Krise bestand zwar zunächst die Tendenz, zum alten Modell der MPS als einer Kardinalsversammlung zurückzukehren, doch wie im ersten Kapitel gezeigt, wurden dabei bestenfalls ein halbes Jahrhundert alte Lehrsätze wiedergekäut. Allerdings werden wir im sechsten Kapitel die Möglichkeit erörtern, dass die äußeren Schichten selbst ein umfassendes politisches Reaktionsmuster für schwere Krisen entwickelt haben. Trifft dies zu, dann wäre der Neoliberalismus im Angesicht der Krise nicht etwa, wie von manchen Autoren behauptet, diffuser, sondern kohärenter geworden.
Kurzer Abriss der neoliberalen Wirtschaftslehre
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das neoliberale Projekt von anderen konservativen Denkströmungen dadurch unterschieden, dass es bewusst als ein vielschichtiges soziologisches Unternehmen der kontinuierlichen transnationalen Entwicklung, Verbreitung und Popularisierung von Lehren angelegt war, die sich mit der Zeit in Reaktion auf theoretische Einwände und äußere Ereignisse wandeln sollten. Es glich nie einem im Konzil von Trient festgelegten Katechismus, sondern bewies durchweg Flexibilität.48 Der Lackmustest für Neoliberale waren in der Regel bestimmte politische Ziele, die man ihnen in ihren Lehrjahren im Denkkollektiv eingeimpft hatte, doch selbst diese konnten Thema heikler Debatten sein. Gleichwohl brachte der Neoliberalismus als soziologisches Denkkollektiv schließlich eine relativ verbindliche Weltanschauung hervor, die mehr oder weniger verbindliche Auffassungen über Märkte und politische Ökonomie einschließt. In einem Buch über das Verhältnis der Neoliberalen zur Krise müssen diese Auffassungen natürlich ein zentrales Thema sein. Gewisse Kenntnisse darüber sind allein schon deshalb wichtig, weil sie uns vor der naiven Annahme bewahren, das neoliberale Krisenverständnis sei eine Art bibeltreuer »Marktfundamentalismus«.
Auch wenn geistige Gebrauchtwarenhändler auf der Rechten gerne lauthals bekunden, die »freie Marktwirtschaft« komme ihren religiösen Auffassungen entgegen (oder sogar umgekehrt), behindert es ein adäquates Verständnis, beides als »Fundamentalismus« gleichzusetzen – ein in der Linken leider zunehmend übliches Schimpfwort. Der Neoliberalismus weist keine Spur einer altertümlichen Religion auf; nicht nur, dass er über keinen Urtext verfügt, die Neoliberalen ziehen sich auch nicht auf einen Obskurantismus zurück, sosehr manche ihrer Sympathisanten dies offenbar auch getan haben mögen. Man wird sie nicht oft bei der Frage »Was würde Hayek tun?« ertappen. Vielmehr haben sie im Lauf der Zeit eine Reihe komplex verbundener und sich teilweise überschneidender Modelle hervorgebracht – etwa Ludwig Erhards »soziale Marktwirtschaft« und Herbert Gierschs kosmopolitischen Individualismus, Milton Friedmans »Monetarismus« und die Theorie der rationalen Erwartungen, Hayeks »spontane Ordnung« und James M. Buchanans konstitutionelle Ordnung, Gary Beckers »Humankapital« und Steven Levitts »Freakonomics«, den Klimaskeptizismus des Heartland Institute und das Geoengineering des American Enterprise Institute, oder – ein besonders passendes Paar – Hayeks »Wirtschaftsrechnung im Sozialismus« und die Chicagoer Effizienzmarkthypothese. Etliche klassischliberale Lehren wurden im Zuge dessen über Bord geworfen, ohne dies klar zu benennen – so etwa die Ablehnung der politisch bedenklichen Macht von Monopolen, die Skepsis gegenüber starken geistigen Eigentumsrechten oder die Kritik am Finanzsektor als einer Quelle makroökonomischer Störungen.49
Wer kein Historiker ist, bekommt das Phänomen Neoliberalismus angesichts dieser Wandlungsfähigkeit nur schwer zu fassen, und wer eine bündige Definition sucht, wird kurzerhand kapitulieren. Skeptiker spotten oft, wenn sie von einer neoliberalen Doktrin hören, die sich gerade durch Veränderbarkeit auszeichnen soll, doch sie sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass die Wissenschaftsforschung keine Bedenken dagegen hat, auch in solchem Wandel eine funktionale Identität auszumachen, indem sie Institutionen und wechselnde – aber der Zahl nach begrenzte – Akteure untersucht und dies mit altmodischer Ideengeschichte kombiniert. Was bedeutete es zum Beispiel, sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts mit Quantenphysik zu befassen? Das Feld war nicht auf einige an schweren Apparaten arbeitende Forschungsteams und eine Handvoll Genies auf der Suche nach der Großen vereinheitlichten Theorie beschränkt, sondern reichte bis zu Hippie-Kommunen und der New-Age-Szene.50 Solange wir ebenfalls über mehrere Einschlusskriterien verfügen und die Akteure und Lehren des Neoliberalen Denkkollektivs so definieren, dass sie zugleich exklusive Organisationen wie die MPS und bestimmte Think-Tanks, allgemeinverständliche Grundlagentexte und Archivbestände der Vordenker umfasst, steht einer vorläufigen Charakterisierung des Neoliberalismus nichts im Wege.
Kluge Historiker haben eingewandt, ein derart vielgestaltiges Wesen könnte sich einer seriösen Analyse entziehen. Festzuhalten ist jedoch, dass die neoliberalen Bodentruppen offenbar durchaus in der Lage sind, Gleichgesinnte zu erkennen, den intellektuellen Austausch mit Verbündeten zu fördern und – wichtiger noch – selbst inmitten der Weltwirtschaftskrise politische Bewegungen mit klaren Zielen und Argumenten zu organisieren und zu finanzieren. Deutlich wird dies etwa an Phänomenen wie der Dämonisierung der Hypothekenbanken Freddie Mac und Fannie Mae, der Blockade von Finanzmarktreformen auf nationaler wie internationaler Ebene, den Aufrufen »populistischer« rechter Politiker zum Klassenkampf von oben im öffentlichen Sektor, an der umfassenden neoliberalen Definitionsmacht über das Problem des Klimawandels, dem Bestsellerstatus von Hayeks Weg zur Knechtschaft, den Astroturfing-Kampagnen der Tea Party und vor allem an einer klaren Verschiebung im öffentlichen Bewusstsein: Nicht mehr Banken und Hedge-Fonds gelten als Ursache der Krise, sondern eine unverantwortliche Finanzpolitik des Staates. All das zeugt von einem Maß an Kohärenz und Beständigkeit, das sowohl der Kontinuität der intellektuellen Tradition als auch beharrlichen Abgrenzungen der Neoliberalen entspringt und durchaus analytische Verallgemeinerungen zulässt.
Sicherlich verfügen die Neoliberalen nicht über eine fixe Utopie, die ihnen bei sämtlichen politischen Schritten als Kompass dient. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil sie sich nicht einmal über Grundbegriffe wie »Markt« und »Freiheit« völlig einig sind, wie wir später sehen werden. Man kann sogar Neil Brenner et al. und Naomi Klein zustimmen, dass ihr bevorzugtes Handlungsfeld die Krise ist, da sie mehr Spielraum für kühne »Reform«-Experimente bietet, die später nur weitere Krisen verursachen.51 Dennoch löst sich der Neoliberalismus nicht in stupiden Empirismus oder pragmatische Beliebigkeit auf. Sein Umgang mit Krisen offenbart eine gewisse beharrliche Logik, die von direkter Bedeutung ist, um seine unerwartete Stärke in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zu begreifen.
Von dieser Annahme ausgehend versuchen wir das circa bis zu den Achtzigerjahren entstandene neoliberale Gedankengebäude telegrammartig darzustellen, wobei ein Anspruch auf Letztgültigkeit naturgemäß nicht erhoben werden kann. Wie die Neoliberalen selbst werden wir dabei disziplinäre Grenzen überschreiten. Die folgenden dreizehn Gebote wurden auch deshalb ausgewählt, weil sie für die Entwicklungen während der 2007 einsetzenden Krisenperiode unmittelbare Relevanz besitzen. Die Frage, wer – inner- wie außerhalb der MPS – wann welchen Gedanken vertreten hat, umgehen wir zugunsten knapper Kernaussagen, bei denen wir von Details und vollständigen Nachweisen zudem absehen.52
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