Untote leben länger. Philip Mirowski

Untote leben länger - Philip  Mirowski


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Kernschmelze insofern eine Krise des Neoliberalismus, als die Deregulierung der Finanzmärkte und andere politische Maßnahmen zur Umverteilung von unten nach oben die Folge eines mangelhaften Marktverständnisses gewesen seien – theoretische Annahmen hatten demnach genauso zum Crash beitragen wie die natürliche Trägheit von Institutionen.11 Freilich dämpfte Campbell seine Analyse mit einer Mahnung: »Auch wenn der Moment der Krise in theoretischen Debatten als Auslöser radikaler Veränderung gilt, erkennen heute viele Wissenschaftler an, dass sich institutioneller Wandel selbst in historischen Augenblicken wie diesem meist sehr langsam vollzieht.« Andere Krisendiagnostiker äußerten sich weniger vorsichtig, doch ob nüchtern oder überschwänglich gestimmt, alle folgten demselben logischen Schluss: Menschen können aus ihren Fehlern lernen; der Zusammenbruch der Finanzmärkte und die tiefe Rezession sind der klare Beweis dafür, dass der Neoliberalismus falsch ist; folglich muss er praktisch erledigt sein. Dieses Credo befeuerte die Maschine, die 2008/09 Unmengen von Kommentaren zur Krise ausstieß, und gab den bekannten Litaneien über Finanzmarktreformen eine neue Eindringlichkeit. Mahnende Worte über den Tod des Neoliberalismus fanden sich in ganz unterschiedlichen Abhandlungen zur Krise, ja selbst bei Autoren, die in gehobener Gesellschaft den Begriff »Neoliberalismus« niemals verwenden würden.12

      In einem Buch über die Krise in das Dickicht der formalen Erkenntnistheorie einzutauchen wäre eine Abschweifung, doch alle diese Prognosen hatten mindestens einen gravierenden Mangel, den wir berücksichtigen müssen: Die Sozialpsychologie, die Wissenschaftsgeschichte und -philosophie sowie die Wissenssoziologie haben übereinstimmend gezeigt, dass sich Menschen gewöhnlich nicht in der hier angenommenen Weise verhalten. Nur der seichteste Popperianer, der an die durchschlagende Wirkung einer punktuellen Widerlegung glaubt, könnte meinen, aufgrund einer bestimmten Beobachtung werde jemand seine tiefsten Überzeugungen, die er seit Langem hegt und die grundlegend für sein Weltbild sind, kurzerhand in Zweifel ziehen. Solche Bekehrungen kommen zwar vor, allerdings nur sehr selten. Viel häufiger sorgen langjährige Schulbildung, Sozialisierung und Erfahrungen für eine enorme Trägheit kognitiver Prozesse. Droht eine starke Überzeugung widerlegt zu werden, dann wird ihre Auslegung gewöhnlich so modifiziert, dass sie mit den zunächst gegenteiligen Befunden vereinbar wird; in der sozialpsychologischen Literatur ist dies als Theorie der kognitiven Dissonanz, in der Philosophie als Duhem-These diskutiert worden. Erkenntnisprozesse haben zudem zwangsläufig eine gesellschaftliche Dimension: Da man das Wissen, das man als gültig akzeptiert, größtenteils kaum überprüfen kann, ist man stark von anderen wie beispielsweise Lehrern, Experten und Kollegen als Bürgen seiner Überzeugungen abhängig.13 Eine zweite mit Blick auf unser Rätsel sehr relevante Frage lautet, ob die faktischen Anhänger des Neoliberalismus ihn mehrheitlich überhaupt als kohärente, mit einem klaren Programm verbundene Lehre verstehen oder stattdessen ihre eigenen neoliberalen Ansichten für zusammenhangslose Implikationen anderer Überzeugungen halten. Wie bereits angedeutet, haben die meisten Menschen weiterhin keine Vorstellung davon, was Neoliberalismus ist, geschweige denn davon, wie er ihr eigenes Denken prägen könnte. Anders gesagt: Wie sollten sie etwas ablehnen, das für sie gar keine räumlich-zeitliche Konsistenz besitzt, oder auch nur ihre eigenen Ansichten als Teil einer kohärenten geistigen Tradition begreifen?

      Dieses Buch geht der Frage nach, warum die Krise bislang kein Beispiel dafür gewesen ist, wie bestimmte Auffassungen falsifiziert werden, und untersucht die Abwehrmechanismen maßgeblicher Gruppen wie der orthodoxen Ökonomen und der Mitglieder des Neoliberalen Denkkollektivs. Es dient letztlich dem Zweck, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, doch dazu müssen wir uns zunächst an den Gedanken gewöhnen, dass Dogmen zumeist nicht aufgrund einer plötzlichen Flut schlechter Nachrichten von selbst zusammenbrechen. Das erfordert weit mehr, weshalb das vorliegende Kapitel bei Erwartungen an Erkenntnisprozesse zur Vorsicht mahnt. Im Folgenden skizzieren wir zunächst die ernüchternden Lektionen der Sozialpsychologie, was die voreilige Annahme eines bevorstehenden Ablebens des Neoliberalismus betrifft. Im Abschnitt danach widmen wir uns der schwierigen Frage, ob dieser in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt genügend Kohärenz und Beständigkeit aufgewiesen hat, um einer Widerlegung feste Anhaltspunkte zu bieten.

      Was geschieht, wenn eine verführerische, umfassende Weltanschauung in die Brüche geht? Es wäre eigenartig, gäbe es nicht zahlreiche Studien zu dieser Frage, schließlich berührt sie direkt das Bild, das wir von uns selbst und anderen haben. Tatsächlich wurde ihr auch in vielfältiger Weise nachgegangen, doch der Kürze halber beschränken wir uns auf die von dem Sozialpsychologen Leon Festinger begründete Theorie der kognitiven Dissonanz. Die klassische Problemlage, die auch die heutige Wirtschaftswissenschaft kennzeichnet, beschreibt Festinger in seinem hervorragenden Werk zum Thema wie folgt:

      »Angenommen, ein Individuum glaubt an etwas aus ganzem Herzen […], angenommen, ihm werden sodann eindeutige und unbestreitbare Beweise dafür vorgelegt, dass seine Überzeugung falsch ist: Was wird geschehen? Das Individuum wird danach häufig nicht nur unerschüttert, sondern stärker denn je von der Wahrheit seiner Ansichten überzeugt sein. In der Tat kann es sogar einen neuen Eifer bei der Überzeugung und Bekehrung anderer zeigen.«14

      Diesen bemerkenswerten Befund führte Festinger darauf zurück, dass das Individuum dergestalt auf die von der Widerlegung tiefer Überzeugungen bewirkte kognitive Dissonanz reagiere. Es gibt umfangreiche Literatur zu der These, dass Menschen eher rationalisierend als rational sind, doch in der Wirtschaftswissenschaft wird sie kaum beachtet.15 Die Theorie der kognitiven Dissonanz geht dabei insofern deutlich über die der Duhem-These folgende wissenschaftsphilosophische Literatur hinaus, als sie Reaktionsmechanismen auf eine emotionale Enttäuschung untersucht, während Erstere darstellt, wie eine drohende Widerlegung durch unendlich viele zulässige Hilfshypothesen abgewehrt werden kann: Sie dienen als Erklärung dafür, warum ein bestimmtes empirisches Ereignis die zu überprüfende Lehre nicht wirklich anficht, sondern auf unberücksichtigte Faktoren zurückzuführen ist. Die Wissenschaftsphilosophie weidet sich daran, dass es rational sein kann, Gegenbeweise abzutun; die Sozialpsychologie der kognitiven Dissonanz zeigt dagegen, als wie überaus dehnbar sich der Begriff der Rationalität im gesellschaftlichen Leben darstellt.

      Festinger illustrierte diese Erkenntnisse gemeinsam mit Kollegen in seinem ersten Buch When Prophecy Fails anhand der »Seeker«, einer Gruppe im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, die den Glauben ausgebildet hatte, fliegende Untertassen würden sie an einem bestimmten Tag im Jahr 1954 vor einer großen Flut retten, die Lake City (ein Pseudonym) verschlingen werde. Er dokumentierte Stunde für Stunde sehr detailliert, wie die Seeker reagierten, als der Tag ihrer Rettung kam und schließlich verstrich, ohne dass irgendwelche Raumschiffe landeten oder eine Flut losbrandete und Lake City auslöschte. Während sie anfangs Journalisten mieden, um sich nicht ihre falschen Prophezeiungen vorhalten lassen zu müssen, änderten sie ihre Haltung bald und nutzten jede Gelegenheit zur Verbreitung ihres (modifizierten und erweiterten) Glaubens. Eine Minderheit löste sich zwar von der Gruppe, doch diese bestand laut Festinger aus Personen, die schon vor der Krise eher halbherzige und randständige Mitglieder gewesen waren. Die große Mehrheit der Seeker gab ihre infrage gestellten Lehren nie auf, und die Anführer verfolgten ihre Missionierungsbemühungen mit noch mehr Nachdruck, zumindest so lange, wie sie mit einem Kreis von Glaubensgenossen verkehren konnten.

      In gewissem Sinn hatte die Verbannung von Philosophie und Methodologie aus den akademischen Lehrplänen zur Folge, dass sich große Teile der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft und viele Vertreter neoliberaler Think-Tanks und Medien von 2008 an ähnlich wie die Seeker verhielten. Schien die Krise auf den ersten Blick nahezu alles widerlegt zu haben, wofür das NDK und die Orthodoxie standen, so erklärten im Laufe der Zeit sowohl Linke wie Rechte, die Krise habe ihre Verbundenheit mit der neoklassischen Lehre respektive der neoliberalen Tradition noch gestärkt.

      Allerdings haben sich die Ökonomen dabei anders verhalten als die Neoliberalen – die im ersten Kapitel getroffene Unterscheidung beginnt nun zu greifen. Die Ökonomen geben bereitwillig zu, dass sie bestimmte Lehrmeinungen und geistige Orientierungen teilen. Ihr an einer renommierten Universität erworbener Doktortitel ist zugleich eine Art Mitgliedsausweis; kaum ein Ökonom würde in Zweifel ziehen, dass ein Theoriegebäude namens Wirtschaftswissenschaft existiert. Entsprechend einfach wird sich nachweisen lassen, dass sie ihre Positionen nach der Krise nicht revidiert haben. Think-Tank-Vertreter, Publizisten und Politiker hingegen bekennen sich in derart schwierigen Zeiten weniger


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