Untote leben länger. Philip Mirowski

Untote leben länger - Philip  Mirowski


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auf menschliche Tugenden wie die Würde.24 Durch einen Taschenspielertrick wurde eine Theorie des Handels zur »Theorie der rationalen Entscheidung« – und Entscheidungen werden überall getroffen. Genau so lautet die zentrale Botschaft von Freakonomics, dem Bestseller zur »Großen Mäßigung«: Krass-rebellische (aber durchaus orthodoxe) Ökonomen haben eine Erklärung für jedes Phänomen, egal ob es um Sumo-Ringer, männliche Teenager, Vornamen von Mädchen oder Kriminalitätsstatistiken geht.25 Eine solche Hybris bringt allerdings ihre ganz eigene Tragik mit sich: Dass eine angeblich alles erklärende Lehre in Wirklichkeit gar nichts erklärt, ist eine philosophische Binsenweisheit. Neoklassische Wirtschaftswissenschaftler können potenziell alles als ordnungsgemäßes Produkt eines körperlosen »Eigeninteresses« darstellen, solange nur »Interesse« stets nachträglich definiert, Ordnung mit dem Status quo gleichgesetzt und die Ontologie des interessierten Subjekts in jedem einzelnen Fall anders gefasst wird. Wie bei allen guten Zombies klafft ein Hohlraum, wo sich ihr Gehirn befinden sollte. Die neoklassische Lehre ähnelt einem Katechismus für die Untoten, die kaum bis zehn zählen können.

      Die unerträgliche Leichtigkeit der Ökonomie in der Neoklassik ist nur die Spitze des Eisbergs. Sehen wir uns zweitens näher an, wie der »wirtschaftswissenschaftliche Imperialismus« der zeitgenössischen Orthodoxie praktisch funktioniert. Beim munteren Vormarsch in die Interessengebiete anderer Disziplinen hat sie sich ihrerseits großzügig bei deren Formeln und Methoden bedient: Man denke an das Aufkommen der »experimentellen Ökonomik« oder den Einsatz von Magnetresonanztomographie zur Prognose wirtschaftlicher Entscheidungen. Wenn es in der Begriffsbildung der neoklassischen Theorie seit den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts eine Konstante gegeben hat, dann waren es in der Tat ihre sklavischen Bemühungen, durch die Imitation halbverdauter physikalischer Modelle ihren Neid auf die Physik zu bewältigen. Eine Sozialwissenschaft, die in ihrem Eifer, die Werkzeuge und Methoden anderer Disziplinen nachzuahmen, so ungezügelt ist, verfügt für Argumentationen auf dem eigenen Gebiet über kein solides Gültigkeitskriterium mehr, und seit den Achtzigerjahren hat sich dieses Problem noch verschärft. Die scheinbar so mächtige, weil allgegenwärtige Wirtschaftswissenschaft steht schwankend an der Schwelle zum Zerfall in ein ungeordnetes Gemenge der jeweiligen Moden anderer Disziplinen, die immerhin den Vorzug einer theoretischen Agenda haben, aus der neue Praktiken und Methoden hervorgehen.

      Drittens sollte sich die Integrität einer lebendigen Disziplin in einem Konsens über Grundlagentexte zeigen, um überhaupt definieren zu können, wer als ihr Vertreter gelten kann. Lehrbücher für das Grundstudium zählen dabei meines Erachtens nicht, da sie lediglich das blasse Gesicht der Disziplin für die Außenwelt sind. Betrachten wir die heutige Orthodoxie, dann fragt sich: Wo ist der John Stuart Mill, der Alfred Marshall, Paul Samuelson, Tjalling Koopmans oder David Kreps des frühen 21. Jahrhunderts? Die Antwort für die Makroökonomie lautet, dass es keinen gibt. In der Mikroökonomie heißt der vermeintliche Goldstandard Microeconomic Theory (1995) von Andreu Mas-Colell, Michael Whinston und Jerry Green, ein ausuferndes und inzwischen auch recht veraltetes Kompendium ohne klare Struktur. Die Ökonometrie wird zwar gezwungenermaßen oft zum Kernbestand der Lehre gerechnet, aber über ihre zentrale Bedeutung für den heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Empirismus ist man sich längst nicht mehr einig. Jenseits der Universitätslehrbücher wird die Disziplin nicht von klaren intellektuellen Standards zusammengehalten, sondern von kaum mehr als ein paar Zeitschriften, die aufgrund eines zirkulären Bewertungssystems als unverzichtbar gelten, und der Dominanz einer Handvoll renommierter Fakultäten. Hochschulabsolventen werden sozialisiert und indoktriniert, indem man sie zur Lektüre dieser Zeitschriften nötigt, deren Aufsätze eine Halbwertzeit von fünf Jahren haben: Ohne Ziel und Vision verschiebt sich der Schwerpunkt der Disziplin allenthalben; während sie sich gegen äußere Herausforderer streng abschottet, weist die Orthodoxie im Inneren eine große Leere auf.

      Viertens schließlich: Sollte in bestimmten Modellen doch einmal ein Paradigma der neoklassischen Lehre aufscheinen, steht man vor dem Problem, dass ihre einwandfreien formallogischen Beweise der scheinbaren Beliebigkeit der Lehrbücher zuwiderlaufen. Die neoklassische Theorie untergräbt sich selbst. Wer das kanonische Arrow-Debreu-Gleichgewichtsmodell anführt, kommt im Zusammenspiel mit den Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theoremen zu der Aussage, dass für Funktionen wie etwa die Überschussnachfrage, die man für »elementare Wirtschaftswissenschaft« halten sollte, fast keinerlei Begrenzungen bestehen. Oder aber man stößt in der Spieltheorie auf das Nash-Gleichgewicht und nimmt das sogenannte Folk-Theorem hinzu, das besagt, dass unter gewöhnlichen Bedingungen beinahe alles als Nash-Gleichgewicht gelten kann. Um bei den wundervollen Paradoxien des »strategischen Verhaltens« zu bleiben: Laut dem »No-Trade«-Theorem von Milgrom/Stokey würde in einer neoklassischen Welt niemand irgendeine Transaktion tätigen, wenn alle Marktteilnehmer so misstrauisch wären wie in der Theorie von Nash unterstellt. Das Modigliani-Miller-Theorem besagt, dass der am Eigenkapital gemessene Verschuldungsgrad einer Bank auf dem Markt vollkommen unerheblich ist, obwohl es in der Finanztheorie ständig um Verschuldung geht. Arrows Unmöglichkeitstheorem drückt aus, dass demokratische Politik in einem nach dem neoklassischen Modell gebildeten Gemeinwesen im Grunde zu ohnmächtig wäre, um bestimmte Ziele zu erreichen. Märkte gelten heute als großartige Informationsprozessoren, doch Grossman und Stiglitz sind zu dem Ergebnis gelangt, dass niemand einen Investitionsanreiz für die Entwicklung und Verfeinerung von Informationen hat. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Es ist das Los delphischer Orakel, obskure Botschaften zu verbreiten.

      Um auf den Ausgangspunkt dieses Abschnitts zurückzukommen: Wenn wir den Alptraum der gegenwärtigen Krise begreifen wollen, müssen wir Neoklassik und Neoliberalismus unbedingt analytisch unterscheiden.26 Die neoklassische Theorie ist wesentlich älter als das Neoliberale Denkkollektiv und weist erst neuerdings Anzeichen einer Infektion auf. Wie wir zeigen werden, hatten ihre Vertreter in der jüngsten Krise die Aufgabe, praktisch jeden seriösen Erklärungsversuch dafür, dass die Krise für die zuständigen Experten ein rätselhafter Schock gewesen ist, zu Fall zu bringen. Mit ihren unausgegorenen Analysen des schleichenden Grauens sind sie zu einem Alptraum geworden. Doch es waren die Neoliberalen, die den Zombie-Horden als Stoßtruppen gedient haben, als Spähtrupps, deren Schock-Strategien und -Therapien die wandelnden Toten nach sich ziehen.

      Einmal wachgerufen, begannen die neoklassischen Ökonomen durchs Land zu taumeln und mit ihren schlechten Frisuren, ihrem toten, starren Blick und resolutem Geschrei die Bevölkerung zu verängstigen – und wurden ihrerseits zu den entscheidenden Wegbereitern des wiedererstarkenden Neoliberalismus. Wie Quiggin einräumte: »Ich habe unterschätzt, mit welcher Geschwindigkeit und Macht sich Zombie-Gedanken ausbreiten.«27 Wir müssen die Gründe dafür herausfinden.

      2

      Die Schock-Block-Strategie

      Neoliberalismus als Denkkollektiv und politisches Programm

      Die Sozialwissenschaften funktionieren in vieler Hinsicht anders als naturwissenschaftliche Disziplinen. Besonders auffällig sind allerdings ihre großen Theoriedebatten, in denen die einen Koryphäen den »Tod von X« verkünden, während die anderen darauf beharren, X habe nie wirklich existiert. Physiker mögen erklären, die ptolemäische Astronomie, die Theorie des Äthers oder die kalte Fusion seien für die moderne Disziplin »tot«, aber sie würden nie so weit gehen zu behaupten, die Theorie oder den Begriff habe es historisch nur in der Fantasie von Leuten gegeben, die man niemals hätte ernst nehmen sollen. In den Sozialwissenschaften geschieht dies hingegen unentwegt: Sie praktizieren häufig den schmerzhaften Spagat, einem bestimmten verbreiteten Konzept schlechthin die Existenz abzustreiten, während sie zugleich seinem ektoplasmischen Leichnam die letzte Ölung verpassen. Kein Wunder, dass wir in Zombie-Alpträume geraten sind, wie im letzten Kapitel gesehen. Das mag symptomatisch für eine verbreitete Schwäche der ontologischen Auffassungsgabe, mangelnde Pietät gegenüber den Verstorbenen oder Schlimmeres sein, doch in jedem Fall ist es ein Defekt, der Debatten tückisch macht.

      Im Lauf der aktuellen Krise betraf dieser Spagat das theoretische Gebilde »Neoliberalismus«: Während ein Chor von Think-Tanks den Begriff für gegenstandslos erklärte, stimmte eine kleinere Gruppe den Grabgesang an. Kommentatoren aller Art, darunter bezeichnenderweise nicht wenige Neoliberale, behaupteten beharrlich, jenseits der bloßen Bezeichnung habe nie wirklich eine Theorie


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