Untote leben länger. Philip Mirowski

Untote leben länger - Philip  Mirowski


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über Verhaltensökonomik, begrenzte Rationalität, Altruismus etc. Wem schlichte Wettbewerbsmodelle nicht zusagen, dem stehen ganze Regale voller Bücher über strategisches Verhalten und Spieltheorie zur Verfügung.«19

      Wenn auch sicher unbeabsichtigt, kommt dies Margaret Thatchers »There is no alternative« gefährlich nahe. Die Behauptung, ernsthafte theoretische Arbeit jenseits der ausgetretenen, von den etablierten Disziplinen sanktionierten Pfade sei im politischen Handgemenge oft wirkungslos geblieben, ist ein beträchtliches Hindernis, wenn wir das Versagen der Linken in der gegenwärtigen Krise begreifen wollen. Quiggins Buch illustriert das beunruhigende Problem, wie schwierig ihm, ja jedem Kritiker innerhalb der Orthodoxie, der Nachweis fällt, dass er nicht bereits selbst mit dem Zombie-Virus infiziert ist (ein klassisches Problem in Zombie-Filmen). Auch wenn er immer wieder signalisiert, dass ihm bewusst ist, wie die neoklassische Lehre die Befreiung aus dem Sumpf des Zombie-Denkens vereitelt, kann er den Gedanken, dass man sich zur Überwindung logischer Inkohärenz von ihr verabschieden muss, nicht wirklich gelten lassen. Infolgedessen widerspricht er sich allenthalben und betrachtet dies notgedrungen auch noch als Vorzug. Das ist selbst ein unschönes Symptom von Zombie-Denken, das sich quer durch das Spektrum der »seriösen Linken« in der Wirtschaftswissenschaft findet, von Paul Krugman über Joseph Stiglitz, Adair Turner und Amartya Sen bis zu Simon Johnson. Krugman fühlt sich seines Status sicher genug, um diesen Defekt offen zuzugeben:

      »Die Art von Wirtschaftswissenschaft, die ich in meiner täglichen Arbeit anwende – und die ich noch immer als den bei Weitem vernünftigsten Ansatz betrachte –, wurde maßgeblich von Paul Samuelson begründet, als er 1948 die erste Ausgabe seines klassischen Lehrbuchs veröffentlichte. Dieser Ansatz verbindet die große Tradition der Mikroökonomie, die betont, wie die unsichtbare Hand in der Regel wünschenswerte Ergebnisse zeitigt, mit keynesianischer Makroökonomie, die betont, dass die Wirtschaft Zündschwierigkeiten haben kann und politischer Eingriffe bedarf. Samuelsons Synthese zufolge muss man auf den Staat zählen, um weitgehende Vollbeschäftigung zu gewährleisten; erst sobald dies als gegeben betrachtet werden kann, treten die üblichen Vorzüge freier Märkte hervor.

      Dieser Ansatz ist sehr vernünftig – aber auch theoretisch prekär. Denn er erfordert eine gewisse strategische Inkonsistenz im Verständnis der Wirtschaft. Auf der Mikroebene unterstellt man rationale Individuen und sich schnell ausgleichende Märkte; auf der Makroebene sind Reibungen und verhaltenstheoretische Ad-hoc-Annahmen wesentlich. Na und? Inkonsistenz auf der Suche nach praktischer Orientierung ist keine Schande.«20

      Ich behaupte nicht, dass man niemals zugleich A und Nicht-A annehmen darf. Krugmans Position enthält ein Körnchen Wahrheit: Die Quantenmechanik zum Beispiel galt im Lauf ihrer Geschichte als unvereinbar mit der klassischen Mechanik und mit Makrotheorien wie der der Relativität. Eine Wissenschaft wie die Physik kann eine Weile mit begrifflicher Schizophrenie funktionieren, die mitunter sogar eine notwendige Voraussetzung dafür ist, ihre verborgenen Widersprüche vollständig zu begreifen. Die Geschichte der Neoklassik unterscheidet sich davon allerdings insofern, als andere Disziplinen gewöhnlich nicht einen Bannfluch über Wissenschaftler verhängen, die auf solche Inkonsistenzen hinweisen und nach ihrer Bedeutung fragen, oder zwecks Wahrung der Reinheit der Lehre kurzerhand die Verfechter des einen Pols ausschließen, wie mit den Theoretikern der rationalen Erwartungen und ihren Epigonen geschehen.

      Während des Kalten Krieges nahm die Pluralität in der Wirtschaftswissenschaft ab, doch zur Wahrung des ideologischen Scheins wurde konkurrierenden Lehren nicht mit völliger Intoleranz begegnet. Es finden sich zum Beispiel im Nachlass Paul Samuelsons Belege dafür, dass er tatsächlich Joan Robinson für den Nobelpreis der Schwedischen Reichsbank vorschlug.21 Erst nach dem Fall der Berliner Mauer verschärfte sich, aus ebenso offenkundigen politischen Gründen, der Konformitätszwang erheblich, um in der Zeit der Immobilienblase schließlich seinen Höhepunkt zu erreichen. Nach der Jahrtausendwende kam eine höchst merkwürdige Literatur auf, der zufolge eine neoklassische Lehre insofern gar nicht mehr existierte, als die legitimen Vertreter der Orthodoxie jede nur denkbare analytische Abweichung vom strikten Walras-Gleichgewichtsmodell geprüft und irgendwer, irgendwo, irgendwann ein formales Modell zur Berücksichtigung der vormals heterodoxen Anliegen konstruiert habe.22 Rationalität? Wozu? Gleichgewicht? Brauchen wir gar nicht! Maximierung? Können wir umgehen! Persönliche Gier? Lesen Sie einfach Amartya Sen! Angebot und Nachfrage? Damit füttert man nur mathematisch ungebildete Leute, die die neueste Interpretation der Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theoreme nicht verstehen! Blasen? Haben wir, heiß, schaumig und rational. Komplexität? Wie viel darf’s sein? Nennen Sie etwas, das Ihnen nicht behagt, und wir bieten Ihnen ein nicht-ganz-so-neues Modell (und vielleicht eine theoretische Brücke) an. Allein, die ganze vorgebliche Aufgeschlossenheit, Toleranz und Berücksichtigung sämtlicher Bedenken ging weltweit damit einher, dass die letzten Überreste heterodoxer Wirtschaftswissenschaft an den Spitzenuniversitäten offen angegriffen und exkommuniziert wurden und die führenden Fachzeitschriften noch mehr Linientreue verlangten. Theoriegeschichte wurde verbannt, die verstreuten Ghettos heterodoxen Denkens wurden kurzerhand eingeebnet. Auch in Europa bezwang man die Abweichler energisch. Die Betroffenen erlebten diesen Widerspruch aus qualvoller Nähe.

      Dass durchaus tolerante, geistig bewegliche Menschen die Heterodoxie genau während der Blase im Vorfeld von 2007 zu einem endlich abgeschlossenen Kapitel erklärten, scheint mir kein Zufall zu sein. Rückblickend kann man darin einen Abkömmling der neoliberalen Botschaft vom »Ende der Geschichte« erkennen, ähnlich der von Ben Bernanke vor der Krise verkündeten ›Großen Mäßigung‹ der Konjunkturschwankungen, nur im Bereich der Theorie. Ausrichtung und Lehrinhalte der Disziplin waren drastisch homogenisiert worden – nicht zuletzt, weil Graduiertenkollegs nun auch Anfänger ohne abgeschlossenes Grundstudium der Wirtschaftswissenschaft aufnahmen –, was bei Anbruch der Krise bedeutsame Folgen zeitigte, als sich die Ökonomen in stümperhaften Reaktionen ergingen. Die Lehrinhalte und die Vorbildung der jüngeren Generation hatten sich derart verengt, dass sie Positionen außerhalb der eigenen Traditionslinie schon gar nicht mehr kannte und sich ihr Gefühl geistiger Freiheit somit schlichter Ignoranz verdankte. Die Lage wurde so bedenklich, dass heterodoxe Verweigerer sich mitunter als Opfer einer arglistigen Täuschung sahen: »Nichts ist für Kritiker der neoklassischen Lehre niederschmetternder als die Behauptung, die neoklassische Lehre existiere nur in ihrer Fantasie.«23 Keine Säuberung ist heimtückischer als die, die im Schutz der glaubhaften Versicherung durchgeführt wird, sie finde gar nicht statt.

      Wie es Big Brother gelang, sich den Ruf politischer Neutralität und Offenheit zu erwerben, lässt sich unterschiedlich deuten; das vorliegende Buch beleuchtet das Phänomen aus mehreren Perspektiven. Schwieriger zu verstehen ist, wie diese Einschätzung selbst im Gefolge der Krise (wenngleich unter ständiger Nötigung), als die Wirtschaftswissenschaft Prügel bezog, gewahrt werden konnte; auch darum wird es im Folgenden gehen. In jedem Fall führte die im neuen Jahrtausend als »Ende der neoklassischen Wirtschaftslehre« vorgetäuschte Toleranz dazu, dass die Reaktionen der Ökonomen auf die Krise noch konfuser ausfielen, als sie es wohl ohnehin gewesen wären.

      Allerdings gibt es für diese Geschichte eine bündige Erklärung. Kein Doktorand der Wirtschaftswissenschaft würde sie ernsthaft in Betracht ziehen, doch wir wollen ihr in diesem Buch nachgehen. Sie lautet, dass Quiggin nur zur Hälfte richtig lag: Nicht nur bestimmte wirtschaftswissenschaftliche Modelle sind zombifiziert, vielmehr ähnelt die gesamte neoklassische Tradition den Untoten und torkelt dergestalt schon eine Weile umher. Das würde offensichtlich erklären, warum noch so viel scharfsinnige heterodoxe Kritik ihren unerbittlichen Vormarsch nicht aufzuhalten vermag. Bevor der Leser diese Behauptung kurzerhand als zu hart verwirft, möge er das Folgende bedenken.

      Nehmen wir das Selbstbild der Wirtschaftswissenschaftler, die eine Auflösung des neoklassischen Programms behaupten, vorläufig für bare Münze. Demnach scheinen wir erstens in eine historische Ära eingetreten zu sein, in der die akademische Neoklassik nicht länger »die Wirtschaft« zu erklären versucht, denn etwas Derartiges existiert für anspruchsvolle Ökonomen gar nicht. Kritiker, die über »die Wirtschaft der realen Welt« daherreden, ernten für solche Naivität nur die stumme Verachtung der Hüter des Expertentums. Ausgewiesene neoklassische Wirtschaftswissenschaftler wähnen sich am vermeintlichen Ende der Geschichte vielmehr im Besitz einer veritablen Universaltheorie, die sie folgerichtig auf schlechthin alles anwenden, was sich unter der Sonne


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