Untote leben länger. Philip Mirowski
ihrer Voraussetzungen verwirklichen lässt – sie ergeben sich nicht einfach so ohne konzertierte politische Anstrengungen und Organisation. Wie Foucault 1978 hellsichtig bemerkte: »Der Neoliberalismus stellt sich […] nicht unter das Zeichen des Laissezfaire, sondern im Gegenteil unter das Zeichen einer Wachsamkeit, einer Aktivität, einer permanenten Intervention.«53 Die Aufforderung, im Angesicht mangelnder epistemischer Sicherheit zu handeln, bildet den Kern des »Konstruktivismus« wie auch des Neoliberalen Denkkollektivs. Der klassische Liberalismus lehnte dies ab: Ihm stellte sich, wie Sheldon Wolin einmal schrieb, »das Problem als eines der Versöhnung von Freiheit und Autorität dar, und er löste es, indem er Autorität im Namen persönlicher Freiheit zerstörte und durch Gesellschaft ersetzte«.54 Die Neoliberalen weisen ›Gesellschaft‹ als Lösung zurück und errichten stattdessen neue Formen von Autorität. Weiter unten werden wir sehen, wie sich dies in verschiedene Argumente für einen starken Staat übersetzt, der eine stabile Marktgesellschaft hervorbringen und schützen soll.
[2] Diese konstruktivistische Orientierung wirft die diffizile Frage nach der ontologischen Beschaffenheit des neoliberalen Marktes auf. Welche Art von »Markt« wollen Neoliberale fördern und schützen? Während die Chicago School mit dem Versuch Karriere machte, eine Variante der neoklassischen Wirtschaftstheorie mit neoliberalen Prinzipien zu verbinden, haben unterschiedliche Fraktionen der MPS den Markt ganz anders gefasst. So erkannte etwa der »radikal-subjektivistische« Flügel der Österreichischen Schule seine Grundlage in der Dynamik erfinderischer Entrepreneure, von deren Produkten die Konsumenten noch gar nicht wissen, dass sie sie brauchen, da die Zukunft prinzipiell unerkennbar ist.55 Die in der MPS vielleicht vorherrschende (und später kulturell dominierende) Version geht auf Hayek selbst zurück: Er bediente sich wesentlich der Metaphern von Gehirn und Computer, um den »Markt« als einen jedem menschlichen Kopf überlegenen Informationsprozessor darzustellen.56 Diese Version beruht stark auf modernen erkenntnistheoretischen Annahmen, die zu der am engsten mit der neoliberalen Weltanschauung verbundenen philosophischen Position geworden sind.
Hier stoßen wir auf eine erste direkte Beziehung zum Narrativ über die globale Krise. Denn aus dieser Perspektive betrachtet enthalten Preise auf einem effizienten Markt alle relevanten Informationen und entziehen sich jeder Vorhersage. Der Markt sprengt demnach grundsätzlich die Fähigkeit des Staates zur Informationsverarbeitung, und dies ist die wesentliche Begründung dafür, dass der Sozialismus nicht funktionieren kann. Alle Versuche zur Überlistung des Marktes müssen scheitern – selbst wenn er sich in der Krise im freien Fall befindet. Allerdings ist dies mitnichten eine rein negative Lehre: Viele der Theorien und Algorithmen, mit deren Hilfe die obskuren, zur Krise führenden Finanzinstrumente und -praktiken entwickelt wurden, beruhen auf einer Fassung der Effizienzmarkthypothese.
Eine weitere, damit teilweise konkurrierende Marktdefinition entstammt dem deutschen Ordoliberalismus. Demnach muss ein funktionierender Marktwettbewerb direkt vom Staat organisiert, d. h. in unterschiedliche soziale Institutionen eingebettet werden.57 Anders als in der Literatur häufig behauptet wird, sind sich unsere Protagonisten in der entscheidenden Frage nach dem Wesen des Marktes somit gar nicht einig. Gewiss schwören sie nicht allesamt auf die neoklassische Lehre oder das kybernetische Marktverständnis. (Dies verweist erneut auf die im ersten Kapitel getroffene analytische Unterscheidung.)
Es mag unglaublich klingen, doch sowohl die neoklassische Tradition als auch das NDK sind in der analytischen Bestimmung von Struktur und Charakter der von beiden als »Markt« bezeichneten Erscheinung äußerst vage geblieben. Beide rücken ins Zentrum, was er angeblich tut, und kümmern sich kaum darum, was er tatsächlich ist. Den Neoliberalen ermöglicht dies ein Ausweichen vor dem fundamentalen Widerspruch zwischen ihren konstruktivistischen Tendenzen und der durchgängigen Berufung auf einen monolithischen Markt, der während der gesamten Geschichte und überall auf der Welt existiert habe – denn wie sollte »gemacht« sein, was ewig und unwandelbar ist? Sie lösen dieses Problem durch die zunehmende Verwischung aller Unterschiede zwischen Staat, Gesellschaft und Markt, während sie zugleich behaupten, ihr politisches Projekt ziele auf die Erneuerung der Gesellschaft durch Unterordnung unter den Markt.
[3] Auch ohne umfassenden Konsens über das »wirkliche« Wesen des Marktes konnten sich die Neoliberalen darauf einigen, die von ihnen angestrebte Marktgesellschaft in der öffentlichen Auseinandersetzung als einen »natürlichen« und unentrinnbaren Zustand darzustellen. Das neoliberale Denken bringt folglich ein eigentümliches Hybrid aus »Konstruiertem« und »Natürlichem« hervor, das den Markt vielfältige Gestalten annehmen lässt. Praktisch erforderte dies eine Integration naturwissenschaftlicher Metaphern in das neoliberale Narrativ. (Dies wird in Kapitel 6 eingehender untersucht.) Bemerkenswert ist dabei, dass MPS-Mitglieder den Markt als ein evolutionäres Phänomen zu zeichnen begannen, schon lange bevor die Biologie die Physik als die für das moderne Weltbild wichtigste Wissenschaft ablöste.58 Wenn der Markt nur ein ausgefeilter Informationsprozessor war, dann das Gen in seiner biologischen Nische ebenso. Selbst unschuldige, ahnungslose Tiere waren demnach wie neoklassische Wirtschaftssubjekte auf die Maximierung alles nur Erdenklichen aus, und in den kognitionswissenschaftlichen Modellen der »Neuroökonomie« traten sogar Neuronen als Marktteilnehmer auf. »Biomacht« wird dazu eingesetzt, die Natur und unsere Körper für Marktsignale empfänglicher zu machen.59 Durch einen frühzeitigen Dialog gewann der Neoliberalismus beträchtlichen Einfluss auf Gebiete wie die »evolutionäre Psychologie«, die Soziologie der Netzwerke, Ökologie, Tierethologie, Linguistik, Kybernetik und selbst auf die Wissenschaftsforschung. Weit über eine ökonomische Lehrmeinung hinaus wurde er so zu einer umfassenden Weltanschauung.60
Mit Blick auf die Krise hat ein Flügel der Neoliberalen naturwissenschaftliche Konzepte der »Komplexität« in den Dienst der Behauptung gestellt, dass sich Märkte einer Steuerung systemischer Risiken generell entziehen.61 Allerdings fasst der Neoliberalismus das Verhältnis von Markt und Natur grundsätzlich anders als die neoklassische Standardtheorie. Kurz gesagt vertritt die Neoklassik eine deutlich statischere Konzeption des Marktes; vielen ihrer Darstellungen zufolge kann der Markt »unvollkommen« sein und »versagen«. Als Grund dafür gelten zumeist unerklärte natürliche Eigenschaften der gehandelten Waren, die unter anderem als »Externalitäten« verbucht werden. Neoliberale lehnen solche Verweise auf Defekte oder Störungen gewöhnlich ab und vertreten stattdessen ein Narrativ, demzufolge Evolution und/oder »spontane Ordnung« den Markt in immer komplexere, menschlicher Erkenntnis mitunter nicht zugängliche Zustände der Selbstentfaltung befördern. Neoklassischen Erklärungen der Krise durch ein »Marktversagen« hat das Neoliberale Denkkollektiv folgerichtig rundweg eine Absage erteilt.
[4] Ein primäres Ziel des neoliberalen Projekts besteht in der Neudefinition von Gestalt und Funktionen des Staates, keineswegs in seiner Zerstörung. Entsprechend schwierig gestaltet sich das gelegentliche Bündnis der Neoliberalen mit den Anarchisten. Der Widerspruch, mit dem sie ständig zu kämpfen haben, besteht darin, dass ein starker Staat ihr Programm gleichermaßen vereiteln wie implementieren kann; daher das Interesse an neuen Formen technokratischer Steuerung, die den idealen Markt vor unbotmäßiger politischer Einmischung schützen sollen. In ihrer Rhetorik und Praxis haben Neoliberale die in der Theorie durchaus anerkannte Bedeutung eines starken Staates mit beträchtlichem Aufwand zu verdecken versucht. Insofern ist die Durchsetzung neoliberaler Politik »eine sich selbst widersprechende Form verleugneter Regulierung«.62 Daraus folgt unter anderem, dass die Demokratie, von Neoliberalen mit einer gewissen Ambivalenz als geeigneter staatlicher Rahmen für den idealen Markt gutgeheißen, zugleich relativ ohnmächtig bleiben muss, sodass die Bürger kaum etwas ändern können.63
Eine Möglichkeit, Demokratie zu Zwecken der Machtausübung einzuschränken, bietet die Unterwerfung des Staates unter eine Marktlogik, die vorgibt, man könne »Bürger« durch »Kunden« ersetzen (vgl. Punkt 5). So versuchen die Neoliberalen den Staat im Namen von Transparenz und Verantwortlichkeit durch diverse Evaluationstechniken umzustrukturieren, ihn durch ein neues Management zu rationalisieren oder – besser noch – staatliche Aufgaben auf Vertragsbasis an Privatunternehmen zu übertragen.64 Auch dies betrifft direkt die Krise: Der Finanzsektor war einer der Hauptschauplätze der Auslagerung staatlicher Aufsichtsfunktionen in quasi-private Institutionen wie etwa die Ratingagenturen Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s. Auch die »Privatisierung« der in den Sechzigerjahren zunächst vom