Zweikanalton. Sabina Moser

Zweikanalton - Sabina Moser


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Der Frau selbst war es unangenehm, so bedürftig zu erscheinen, und zugleich spürte ich ihre Erleichterung über die wohl dringend benötigten Gaben und die Zuwendung der Nachbarinnen. Sie erschien mir wie ein hübsches Mädchen, das früh müde geworden ist. Ihr Gesicht war bleich und wie durchsichtig, eingerahmt von schulterlangen schwarzen Haaren. Wenn ich ihr auf der Straße begegnete, hatte sie immer einen abwesenden Blick, den sie dann kurz zu einem leicht erschreckten, freundlichen Nicken sammelte. Es kam traurig von weit her. Ich trat nun mit dem Umschlag vor sie hin und sagte angestrengt: „Alles Gute zum Geburtstag!“ Da habe ich ihre Augen das einzige Mal lachen sehen.

      Der Hof vor unseren Häusern war zur Hälfte asphaltiert und begrenzt von Garagen, der Rest bestand aus einem Zierrasen, dem Heiligtum des Hausmeisters, und einem Platz festgetretener Erde mit vereinzelt hartnäckigen Grasflecken, auf dem wir im Sommer fast täglich Völkerball spielten. Am Rand einer kleinen Böschung standen zwei große Bäume, deren Stämme sich idealerweise in derselben Höhe gabelten. Dazwischen hatten einige Väter, die ja auf dem Holzplatz arbeiteten, einen langen Baumstamm gelegt und Schrauben für Schaukeln hineingedreht. Sechs oder sieben solche „Hutschen“ reihten sich so aneinander. Dahinter erhebt sich fast senkrecht der Höglrain und begrenzt die Siedlung im Westen. Richtung Norden führt der Blick zum Massiv des Wilden Kaisers, auf immer schlafend hingestreckt mit seinen langen, fließenden Haaren aus Stein und den auf der Brust gefalteten Händen. Jedenfalls dann, wenn man das in der Silhouette der mächtigen Gebirgskette erkennen will.

      Wir waren etwa zwanzig Kinder der Höglrainsiedlung, sobald ein Kind laufen konnte, gehörte es dazu. Die älteren Halbwüchsigen gingen bereits eigene Wege und gesellten sich nur selten zu uns. So hatten wir keinen Anführer, die Buben gaben abwechselnd den Ton an, je nachdem, wer gerade eine Idee hatte. Oft ging es dabei um Mutproben. Mädchen wurden zu Buben, sobald sie den Hof betraten, die Puppen blieben oben in ihren Stuben.

      Wir wuchsen in einem Klima von Schuld und Sühne auf, ohne uns dessen bewusst zu sein. Dabei verführten wir uns gegenseitig zu immer neuen Versuchungen, wie um den Spielraum auszureizen, bis die Strafe über uns hereinbrechen würde. Kinder zu schlagen gehörte damals zur Erziehung. Auch die Kinder anderer Leute wurden schon mal geohrfeigt, wenn sie es nach Ansicht der Erwachsenen verdient hatten. Manchmal hörte ich abends die Buben einer Familie im Erdgeschoß unseres Hauses schreien, wenn ihre Mutter sie mit dem Gürtel verdrosch. Der Vater saß wegen Einbruch ein und die drei Söhne führten, jeder auf seine Art, auch oft etwas im Schilde. Schläge und Geschrei waren das einzige Mittel ihrer Mutter, sich durchzusetzen. Strafe war allgegenwärtig und willkürlich, wir hatten uns daran gewöhnt und integrierten sie in unser Spiel. Dabei wurde der Hausmeister der Höglrainmühle unser wichtigster Mitspieler. Er selbst sah seine Aufgabe vor allem darin, die Bewohner mit Verboten und Anordnungen zu schikanieren. Blasius Salvenmoser, hinter seinem Rücken nur Blasi genannt, arbeitete zwar eigentlich als Kitzbüheler Vertreter einer Versicherung, schaffte es aber irgendwie, ständig präsent zu sein auf dem Hof oder hinter den Garagen, wo er Kaninchen züchtete. Er besaß einen inneren Radar, der sofort anschlug, wenn einer von uns seinen Rasen betrat. Sofort schoss er aus dem Haus oder um die Ecke und schrie den Missetäter minutenlang nieder. Sein Gesicht färbte sich dann schlagartig krebsrot und hob sich leuchtend von dem Dunkelgrau seines Hausmeisterkittels ab. Bekam er einen Burschen als vermeintlichen Übeltäter zu fassen, setzte es zu „Sakradi, ehs nixnutzign Fratzn ehs!“ eine saftige Watschen. Bei Mädchen beschränkte er sich aufs Brüllen. Wenn uns langweilig war, machten wir uns einen Spaß daraus, mit einem Fuß auf den Rasen und wieder herunter zu hüpfen. Im Lauf der Jahre erschöpfte Blasi das viele Schreien. Also erklärte er das gepflegte Grün, das er hingebungsvoll mähte, zur Liegewiese für die Erwachsenen und stellte seinen Liegestuhl unter die drei dünnen Birken in der Mitte.

      Ein anderer gefürchteter Mann der Höglrainmühle war der Aufseher des Sägewerks, von allen nur Sagei genannt. Er wohnte mit seiner Familie in einem kleinen Häuschen an der gegenüberliegenden Seite des Holzplatzes und hatte von dort die Stämme und Brettertürme gut im Blick. Unsere Burschen zogen nämlich regelmäßig Bretter aus den Stapeln, um irgendwelche Verschläge damit zu bauen. Wenn der Sagei einen von ihnen erwischte, zog er ihm ordentlich die Ohren lang. Und wieder war es die reale Gefahr, die auf dem Gelände lauerte, die uns dort Räuber und Gendarm spielen ließ. Es wurde zur Mutprobe, am frühen Abend, wenn die Arbeiter abgezogen waren, über den Zaun zu klettern. Wenn dann der Sagei auftauchte – und das tat er mit genau der lautlosen Allgegenwart, die wir von ihm erwarteten –, mussten wir es eilig wieder über die Hürde nach draußen schaffen. Auf dem Hof waren wir sicher, der Sagei überschritt nie sein Gebiet, doch rund um die Säge hatte er uns in der Hand. Immer, wenn wir uns gerade in den engen, hohen Gängen zwischen den Holztürmen vor der gegnerischen Mannschaft versteckt hatten, ertönte plötzlich der Schlachtruf: „Der Sagei kimb!“ und alle stoben auseinander. Wir Mädchen merkten gar nicht, dass er uns verschonte und nie fand. In meiner Erinnerung ist der Sagei stets schwarz gekleidet, nie hört man ihn kommen. Unsere Eltern sahen uns manchmal von den Balkonen aus zu, als würden wir auf einem großen Schachbrett agieren. Erwischte es einen „Bauern“, geschah es ihm ganz recht. Aus sicherer Distanz trauten sich die Buben dann gleich wieder, den Sägemeister zu provozieren. Sie riefen lauthals „Sigei, Sagei, Hehnergagei“ und verhöhnten ihn so als Hühnerdreck.

      Anders als vom Sagei wurde ich zuhause vom Vater jedoch nicht verschont. Mein Vater war als unerwarteter Nachzügler in der schlechten Zeit zwei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Kitzbühel geboren. Obwohl der Liebe seiner Eltern und Geschwister gewiss, musste er doch auch früh erfahren, dass für seine Bedürfnisse oft kaum Zeit oder Geld da waren. Zeitlebens litt er darunter, dass er nicht aufs Gymnasium hatte gehen können. Künstlerisch begabt und den Büchern zugeneigt, absolvierte er in Innsbruck eine Lehre zum Buchbinder, doch konnte er sich nach exzellent bestandener Gesellenprüfung aus Heimweh nach Kitzbühel nicht dazu aufraffen, sich in Innsbruck oder Salzburg, wo Bedarf daran bestanden hätte, um eine Stelle als Buchbinder zu bewerben. So führte er allein das Heimatmuseum weiter, das sein inzwischen verstorbener Vater aufgebaut hatte, und legte sein handwerkliches Können nur mehr in der Freizeit in die Gestaltung von Bucheinbänden, die er aufwendig mit Goldschnitt und Lederrücken versah. Er wählte dafür mit Vorliebe Geschichtswerke über das Altertum und fremde Kulturen, deren Lektüre ihm ein Studium ersetzte.

      In meinen ersten Lebensjahren badete ich in seiner Aufmerksamkeit, doch formte er mich auch zu seinem Geschöpf und wurde mein Trainer. Seine Zuwendung war zunehmend an meine Leistung gekoppelt, in der Schule, beim Skifahren, beim Gehorchen. So erklärte er mir bereits zu Beginn meines ersten Schuljahres, dass er von mir erwarte, die Klassenbeste zu sein. Als ich das mit dem ersten Semesterzeugnis auch gleich schaffte, durfte ich mir zur Belohnung eine große, teure Haarspange mit einer dunkelrosafarbenen Samtschleife aussuchen. Zur Einschulung hatte er mir eine selbstgemachte, mit lustigen Bildern und Bändern versehene Mappe für meine Hefte geschenkt, für die zweite Klasse bekam ich eine aus dunkelrotem Leinen, in die mein Name in Gold eingraviert war. In den Sommerferien, die ich oft bei den Großeltern in Hamburg verbrachte, schickte er mir mit Blumen aus Wachskreidenfarben illustrierte und in Schönschrift verfasste kurze Briefe und Postkarten. Den ersten Gruß nach meinem ersten Schuljahr begann er so: „Ich schreibe dir diesen Brief sehr langsam, weil ich weiß, dass du noch nicht schnell lesen kannst.“

      Doch innerhalb weniger Jahre veränderte sich mein Vater. Aus dem humorvollen Mann, der mir ein Kasperltheater gezimmert und darin vorgespielt hatte, aus dem lebenslustigen Sänger und Schauspieler, den viele Kitzbüheler als Spaßvogel in Schwänken der Kolpingbühne kannten, wurde ein in sich zurückgezogener, einsilbiger Mann. Im Museum verwelkte er, noch keine dreißig Jahre alt, zusammen mit den alten Sachen.

      Je mehr er sich selbst aufgab, desto jähzorniger wurde er und bedingungsloser in seinen Ansprüchen an mich. Fehler zu machen, das war seiner Meinung nach im Leben nicht vorgesehen. Entweder man machte es gleich richtig oder ging unter. Wenn ich mal schwindelte, um seiner Strenge zu entgehen, schlug er mich. Er wollte damit, so erklärte er meiner Mutter, mögliche Anzeichen schlechter Anlagen, wie sie sich bei seiner Schwester gezeigt hatten, von Anfang an ausmerzen. Die führte ein unstetes Leben und hatte drei kleine Kinder bei ihrer Mutter zuhause abgeliefert.

      Die körperlichen Schmerzen der Schläge spürte ich kaum, auch weil mein Vater es bei wenigen beließ. Schlimmer


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