Die Wut wächst. Oskar Lafontaine
man dagegen in New York bewegende Trauerfeiern, an denen auch viele amerikanische Muslime teilnahmen.
Unabhängig davon wurden die US-Bürger misstrauisch und unruhig. Neue Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen forderte man im ganzen Land. Wachsende Angst vor dem unbekannten Feind breitete sich aus. Der Kongress verabschiedete ein Antiterrorgesetz, in dem die Einschränkung der Bürgerrechte in Kriegszeiten verankert wurde. Weil vier Terrorverdächtige hartnäckig schwiegen, wurde die Einführung der Folter gefordert. 45 Prozent der Amerikaner sprachen sich nach einer Gallup-Umfrage dafür aus. Im Wall-Street-Journal wurde daran erinnert, dass philippinische Folterknechte Pläne vereitelt hatten, in denen vorgesehen war, amerikanische Flugzeuge abstürzen zu lassen. Warum foltern wir nicht Terroristen, um Anschläge zu verhindern, bei denen tausende sterben können, wurde gefragt. Die Gegner dieses Rückfalls in die Barbarei wiesen auf die vielen Feldzüge hin, die Amerika für die Menschenrechte unternommen hatte. Artikel 5 der Internationalen Erklärung der Menschenrechte wurde zitiert: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.« Etwas später berichtete die Washington Post, die CIA habe eine Lösung gefunden. Die Verdächtigen werden an Länder mit »ungewöhnlichen Verhörmethoden« ausgeliefert. Diese geben die durch die Folter erhaltenen Informationen dann an die USA weiter. Im Kampf gegen den Terror werden die Werte verraten, für die die freiheitlichen Demokratien stehen.
George W. Bush erließ eine Anordnung, dass Terrorprozesse vor US-Militärgerichten geführt werden sollen. Solche Militärgerichte wurden zuletzt 1942 im Zweiten Weltkrieg vom damaligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt eingesetzt, um deutschen Saboteuren den Prozess zu machen. Durch diese Maßnahme erschwerte Bush die internationale Strafverfolgung. Gegen den Plan, ausländische Terroristen vor Militärgerichte mit stark eingeschränkten rechtsstaatlichen Verfahren zu stellen, wandten sich vor allem die Europäer. In den Gefängnissen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens saßen Verdächtige, die die Vereinigten Staaten gerne übernehmen wollten. Aber die Europäer wussten nicht, wie sie vorgehen sollten, ohne die eigenen Rechtsgrundsätze aufzugeben, weil die amerikanischen Militärtribunale die in Europa geächtete Todesstrafe verhängen konnten.
Gefangene Taliban und al-Qaida-Kämpfer internierten die USA auf dem kubanischen Militärstützpunkt Guantanamo. Gegen das internationale Recht wurde ihnen zunächst der Status des Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention vorenthalten. Sie waren in Käfigen mit einer Grundfläche von einem Meter achtzig mal zwei Meter vierzig eingepfercht. Die UNO-Menschenrechtsbeauftragte Mary Robinson musste öffentlich die Einhaltung der Grundrechte für die Gefangenen anmahnen.
Hinter der rigorosen Beschränkung bürgerlicher Rechte stand der Justizminister John Ashcroft. Er ist der Sohn eines Pfingstler-Pfarrers und wurde erzogen, Seelen zu retten. Wenn andere Zeitungen lesen, liest Ashcroft morgens in seinem Büro Mitarbeitern die Bibel vor. Er raucht nicht, trinkt nicht, flucht nicht und tanzt nicht. Auch den traditionellen Brauttanz bei Hochzeitsfeiern, so wird berichtet, lehnt er ab, weil dieser ihn sexuell erregen könnte. In der Halle seines Ministeriums ließ Ashcroft eine weibliche Statue mit entblößter Brust verhüllen. Die Lebensweise Ashcrofts erinnert an den religiösen Fundamentalismus der Muslime.
Nach den Anschlägen, die Schrecken und Furcht verbreiteten, war Patriotismus angesagt. Amerika war ein einziges Flaggenmeer. Frauen und Männer trugen stets sichtbar Anstecknadeln mit dem Sternenbanner. Die Kinder kamen in T-Shirts, auf denen die amerikanische Flagge gedruckt war. Feuerwehrmänner, Polizisten und Soldaten waren die Helden der Nation. Die Meinungsfreiheit geriet in Gefahr. Robert Jensen beispielsweise hatte im Houston Chronicle einen Artikel veröffentlicht. Darin verurteilte er die Terroranschläge. Gleichzeitig sah er in ihnen eine Reaktion auf die verfehlte amerikanische Nahostpolitik und auf die massenhaften Akte des Terrorismus, welche die USA im Irak und in anderen Staaten begangen hätten. Der Aufsatz löste Proteststürme aus. Ähnlich erging es anderen Amerikanern, die es wagten, sich dem Mainstream entgegenzustellen.Verfasser kritischer Artikel verloren ihren Job. Erinnerungen an die Hexenjagd der fünfziger Jahre kamen hoch. Schwarze Listen tauchten wieder auf. In ihnen wurden »unpatriotische Umtriebe« von Liberalen und Pazifisten aufgelistet. In einer Zeit, in der die Meinungsfreiheit eine demokratische Gesellschaft vor Fehlentscheidungen bewahren kann, wurde sie unterdrückt. Unterdessen übten sich einige US-Bürger in makabrem Humor. Toilettenpapier mit dem Konterfei Bin Ladens wurde angeboten. In den Urinbecken amerikanischer Imbisshallen klebten Fotos des Terrorscheichs. Den Vogel schoss das Investmenthaus Merrill Lynch ab. Am 13. September veröffentlichte es in einer italienischen Wirtschaftszeitung eine Anzeige: »Von heute an hat der Aktienmarkt einen neuen Anführer.« Der Hauptkonkurrent Morgan Stanley hatte im Südturm des World Trade Centers Büros, in denen 2500 Mitarbeiter beschäftigt waren. Die Freude von Merrill Lynch währte nicht lange. Morgan Stanley teilte mit, dass so gut wie alle Mitarbeiter gerettet werden konnten. So geht es zu im Raubtierkapitalismus.
Die Schwurfinger des Geldes
Das World Trade Center war ein Zentrum der Globalisierung. Der Schriftsteller Botho Strauß nannte die Twin-Towers »Schwurfinger des Geldes«. Sie seien »abgehackt worden«. Das Gesetz des Islam, die Scharia, sieht vor, Dieben die Hand abzutrennen. Im Bild des Dichters wird der Kampf der Armen gegen die Reichen, der Muslime gegen die restliche Welt, zusammengefasst. Aber wie so oft wurden Unschuldige zum Opfer dieses Kampfes. Der Anschlag hatte eine Symbolik, die nicht zu übertreffen ist. Schon der russische Anarchist Michail Aleksandrowitsch Bakunin forderte, dass von dem Terrorakt eine Propagandawirkung ausgehen müsse, und er empfahl den Schlag gegen das Zentrum. Der war den Attentätern gelungen. Wenn irgendwo die Spielhöllen des Kasinokapitalismus stehen, dann in New York. Wenn Geld die Welt regiert, dann ist New York die Welthauptstadt. Hier jagen Investmentbanker und Derivatenhändler Milliarden Dollar um den Erdball. Insidergeschäfte werden gemacht und Analysten und Journalisten spielen zusammen, um den Anlegern »die Haut vom Gesicht zu reißen«. So drücken sich die Händler aus, wenn sie einen Anleger um eine Menge Geld gebracht haben. Die Wall Street ist mächtiger als der amerikanische Präsident.
Viele Filmregisseure und Schriftsteller hatten New York schon zuvor zum Schauplatz ähnlicher Katastrophenszenarien gewählt. Aber als das schreckliche Ereignis dann eintrat, waren alle geschockt. Das Massaker hatte nur wenige sichtbare Leichname hinterlassen. Die Menschen trauerten, aber sie konnten ihre Toten nicht begraben. »Warum waren in den Türmen keine Fallschirme?«, fragte ein Kind. Dass die Gigantomanie der modernen Architektur Gefahren birgt, haben viele gewusst oder zumindest geahnt. Der saarländische Lyriker Johannes Kühn, der besonders in Frankreich hohe Wertschätzung genießt, verfasste am 31. Januar 2001 ein Gedicht mit dem Titel »Hochhaus«. Dort heißt es:
Unter ihm geh ich staunend hin,
verwünsch die Bombe,
die es treffen könnte,
und bin in Kriegsangst.
Aufdämmern lässt sie ein Flugzeug,
das noch höher fliegt,
als das Haus steht,
in lauter Raserei voll Raketenlärm
am Mittagshimmel.
Ich glaubte, ich sei im Film, weil ich im Kino ähnliche Bilder gesehen hatte. Dass das soeben gesehene Wirklichkeit war, drang nur langsam in mein Bewusstsein. Dabei war die Welt vorgewarnt.
Der Terrorist Ramzi Ahmed Yousef hatte am 26. Februar 1993 in einer Tiefgarage unter dem World Trade Center eine Bombe gezündet, die er selbst konstruiert und gebaut hatte. Bei seinem Anschlag kamen fünf Menschen ums Leben und 1000 wurden verletzt. Die Explosion war die größte Katastrophe, mit der die New Yorker Feuerwehr bis dahin in ihrer 128-jährigen Geschichte konfrontiert worden war. Zwar hatten die US-Behörden Telefongespräche aufgezeichnet, die auf die Planung eines Bombenanschlags im World Trade Center hinwiesen, leider konnte aber keiner der zuständigen Beamten Arabisch. Yousef schwieg sich über seine Geldgeber aus. Er stand auch als Informant auf der Gehaltsliste des FBI. Seine Identität konnte nicht eindeutig festgestellt werden. Er war in Großbritannien zum Elektrotechniker ausgebildet worden und anschließend in den von Bin Laden finanzierten Camps in Afghanistan zum Terroristen. Yousef war kein Selbstmordattentäter. Vielmehr hatte er seine Fluchtwege sorgfältig vorbereitet.