Die Wut wächst. Oskar Lafontaine
worden waren. Als Yousef zu 240 Jahren Haft verurteilt wurde, erklärte er: »Ich bin ein Terrorist, und ich bin stolz darauf.« Sein Ziel sei es gewesen, die amerikanische Politik im Nahen Osten zu verändern. Er warf den Vereinigten Staaten vor, unschuldige Menschen zu töten. Sie hätten die indianischen Ureinwohner und andere Minderheiten unterdrückt und misshandelt. Die USA hätten seiner Ansicht nach den Terrorismus erfunden.
Von dem erneuten Anschlag auf das World Trade Center konnte daher niemand überrascht sein. Die Ermittlungen nach dem Terrorakt vom 26. Februar 1993 lieferten alle notwendigen Hinweise. Der Regierung Bush, so wurde später bekannt, lagen Informationen der Geheimdienste vor, nach denen es bald zu größeren Terroranschlägen kommen würde. Zudem hatte ein Fluglehrer aus Minnesota das FBI im August 2001 gewarnt, Terroristen könnten ein Linienflugzeug als Waffe benutzen. Er schöpfte Verdacht, weil einer seiner auszubildenden Piloten – er stellte sich tatsächlich als einer der Terrorpiloten des 11. September heraus – sich auffallend für die Boing 747 interessierte. Zudem wollte er keine Fragen nach seinem persönlichen Hintergrund beantworten. Die CIA hatte sich in den letzten Jahrzehnten überwiegend auf technische Verfahren konzentriert.Sie überwachte den Funkverkehr und machte Satellitenfotos. Das war im Kalten Krieg sicher sinnvoll. Aber wie sich zeigte, reichen diese Mittel nicht aus, um den Terrorismus zu bekämpfen. Es wurde gefordert, wieder mehr Agenten einzusetzen. Bei näherem Hinsehen stellte man aber fest, dass die Orientalistik in den Vereinigten Staaten zu den Fächern gehört, für die sich kaum jemand interessiert. Die Voraussetzungen für das Anwerben von Mitarbeitern, die ein kulturelles und soziales Verständnis der islamischen Länder haben, sind äußerst schlecht.
Die amerikanischen Politiker mussten neu darüber nachdenken, wie sie ihren Bürgern Schutz und Sicherheit gewährleisten konnten. Das Antiraketenprogramm, das Präsident George W. Bush mit seiner Regierung zum vorrangigen Ziel erklärt hatte, war auf einmal infrage gestellt. Nicht heranfliegende Raketen mit atomaren, biologischen oder chemischen Sprengköpfen bedrohten Amerika, sondern Menschen, die, mit Teppichmessern bewaffnet, eine große Katastrophe auslösen konnten. Den Terroristen wäre es beinahe gelungen, die Zentren der amerikanischen Politik komplett zu zerstören. Wer hätte je gedacht, dass es so leicht sei, eine Boeing über dem Pentagon abstürzen zu lassen? Man musste doch davon ausgehen, dass die Schaltzentrale der größten Militärmacht der Welt gegen solche Anschläge mehrfach gesichert war. Unwillkürlich fühlte ich mich an den jungen Sportflieger Matthias Rust aus Wedel bei Hamburg erinnert, der vor Jahren seelenruhig mit einem Privatflugzeug auf dem Roten Platz in Moskau gelandet war. Er hatte vorher – von der russischen Luftabwehr unbehelligt – eine Schleife über dem Kreml gedreht.
Anfang 2002 steuerte ein 15-jähriger Schüler mit einer Sportmaschine in ein Hochhaus, nachdem er für kurze Zeit in den Luftraum über dem Luftwaffenstützpunkt MacDill in Tampa eingedrungen war. Dort ist das Hauptquartier des Zentralkommandos der Vereinigten Staaten, das den Krieg in Afghanistan leitet. Hätte der Schüler es mit Sprengstoff beladen und über der Kommandozentrale abstürzen lassen, dann wäre sie schwer beschädigt worden. Obwohl die Luftabwehr schon gegenüber kleinen Privatflugzeugen versagte, hielt die Bush-Administration an dem Antiraketenprogramm fest. Schließlich versprach sich die Republikanische Partei, wie zu Zeiten Ronald Reagans, von der Aufrüstung Impulse für die amerikanische Wirtschaft. Zudem hatte die Rüstungsindustrie für Bushs Wahlkampf viel Geld gespendet.
Die Reaktionen in der übrigen Welt auf die Terroranschläge vom 11. September waren zwiespältig.Während in den westlichen Industriestaaten Anteilnahme und Trauer vorherrschten, kam im Nahen Osten, in Asien, Südamerika und Afrika Schadenfreude auf. Viele fragten sich, warum es zu diesen Anschlägen gekommen war und warum die amerikanische Politik soviel Hass in der Welt hervorrief.
Eine Umfrage der in Paris erscheinenden Zeitung International Herald Tribune unter 275 einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur ergab, dass 58 Prozent der Befragten – soweit sie keine Amerikaner waren – meinten, die US-Politik sei eine der wichtigsten Ursachen für den 11. September. Unter den US-Bürgern vertraten nur 18 Prozent diese Ansicht. 60 Prozent der Nichtamerikaner gaben zudem an, dass die USA zumindest teilweise für die große Kluft zwischen Arm und Reich auf der Erde verantwortlich seien, und dass das reichste Land der Erde zu wenig für die armen Länder täte.
Das trifft ohne Zweifel zu, denn Amerika gibt am meisten für das Militär, aber am wenigsten für die Entwicklungshilfe aus. Und was ist mit der Außenpolitik Washingtons als Ursache des Terrors? Wenigen Amerikanern war im September 2001 bewusst, dass die USA in einem gemeinsamen Einsatz mit Großbritannien den Irak regelmäßig bombardierte. 500 000 irakische Kinder starben bislang an Unterernährung und Krankheit – als Folge des verhängten Wirtschaftsembargos. Seit Pearl Harbor hat kein Staat die USA angegriffen, aber die Vereinigten Staaten mussten immer wieder Länder mit Gewalt daran hindern, die freie Welt zu verlassen und kommunistisch zu werden. Jetzt werden Staaten angegriffen, die Terroristen beherbergen oder Massenvernichtungswaffen herstellen. Mit dieser Begründung ließ Präsident Bill Clinton während der Lewinsky-Affäre eine Aspirinfabrik im Sudan bombardieren. Die Liste der Länder, mit denen Amerika seit dem Zweiten Weltkrieg Krieg geführt hat, die es bombardiert hat oder in denen es in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt war, ist lang: Korea, Guatemala, Indonesien, Kuba, Zaire, Laos, Vietnam, Kambodscha, Grenada, Libyen, El Salvador, Nicaragua, Panama, Irak, Bosnien, Sudan, Jugoslawien und jetzt Afghanistan. Als Präsident George W. Bush die Luftangriffe auf Kabul ankündigte, sagte er: »Wir sind eine friedliche Nation.« Aber warum hat die friedliche Nation in den letzten Jahren so viele Kriege geführt? Alle nur im Namen der Freiheit und der Menschenrechte? Der englische Schriftsteller Harold Pinter zitierte im November 2001, als ihm die Hermann-Kesten-Medaille verliehen wurde, in seiner Dankesrede im Hinblick auf die amerikanische Machtpolitik William Shakespeare, der im »Julius Cäsar« den Cassius sagen lässt:
Ja, er beschreitet, Freund, die enge Welt
wie ein Colossus, und wir kleinen Leute,
wir wandeln unter seinen Riesenbeinen,
und schauen umher nach einem schnöden Grab.
Das Pentagon ist sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die vielen Militärinterventionen der Amerikaner Folgen haben. So schrieben schon 1997 Mitglieder des Defense Science Board, eine Abteilung des amerikanischen Militärs zur Entwicklung neuer Strategien und Konzepte, in einem Bericht: »Historische Daten belegen einen engen Zusammenhang zwischen der US-amerikanischen Verwicklung in internationale Situationen und einer Zunahme von Terroranschlägen gegen die Vereinigten Staaten. Zudem verleitet die militärische Asymmetrie, die anderen Staaten offene Angriffe auf die USA unmöglich macht, zum Einsatz von übernationalen Tätern.« Gemeint sind damit Terroristen, die Anschläge auf Einrichtungen der Vereinigten Staaten verüben. In der amerikanischen Diskussion ist vom »Blowback«, vom Rückstoß der amerikanischen Außenpolitik die Rede. Wann werden die Vereinigten Staaten aus dem engen Zusammenhang zwischen den US-Militärinterventionen und den Terroranschlägen gegen die Vereinigten Staaten Konsequenzen ziehen? Und haben die Staatsmänner Europas diese Gefahren bedacht, als sie die Beteiligung ihrer Soldaten am Afghanistankrieg anboten? Der Terrorismus kann nicht durch Krieg bekämpft, geschweige denn ausgerottet werden. Wenn im Bombenhagel viele Unschuldige sterben, wächst die nächste Terroristengeneration heran. »Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Menschen macht, als er deren wegnimmt«, schrieb Immanuel Kant.
Keine eigenen Toten
Unmittelbar nach den Anschlägen war oft vom Krieg die Rede. Aber bald wurde klar, dass das Wort »Krieg« nicht angemessen war. Unter »Krieg« versteht man das Gegeneinander von Staaten und Armeen. Davon konnte keine Rede sein. Zwar kämpften in vielen Ländern der Welt bereits marodierende Banden gegeneinander, die kein Interesse an der Rückkehr des Friedens hatten, aber diese Deregulierung und Privatisierung des Krieges war bisher eine Angelegenheit der Dritten Welt. Jetzt aber hatte diese neue Form der Gewaltanwendung die einzig verbliebene Supermacht erreicht. Das war kein Zufall. In den achtziger Jahren wurden in den USA in verschiedenen Städten Rekrutierungsbüros für die Anwerbung islamischer Jugendlicher für den »Heiligen Krieg«, den Dschihad, in Afghanistan eröffnet. Solche Büros gab es unter anderem in New York, Detroit und Los Angeles. Das Al-Kifah-Afghan-Refugee-Center in Brooklyn war von Osama Bin Ladens Freund