Mare Manuscha. Группа авторов

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      Die Sinti wurden dort in Polen zur Arbeit eingeteilt, Männer, Frauen und auch die größeren Kinder. Unser Vater mußte in einer Munitionsfabrik arbeiten, meine Mutter und meine Schwester Renate mußten Schützengräben ausheben für die Soldaten. Meine Schwester war damals auch noch klein, sechs Jahre war sie alt. Trotzdem mußte sie mit zur Arbeit. Meine Mutter und meine Schwester mußten dann im Wald arbeiten, bei der Arbeit waren sie von deutscher SS bewacht. Alle unserer Menschen mußten in Polen Zwangsarbeit leisten.

      Meine Mutter wollte erreichen, daß meine Schwester nicht mit zur Arbeit muß, aber es hieß, wer nicht zur Arbeit geht, wird standrechtlich erschossen. So wurde das gesagt. Sinti und Juden mußten dort Zwangsarbeit leisten.

      Es gab nichts zu essen dort bei der Arbeit. Also mußte meine Mutter sehen, wo sie etwas für uns herbekam. Manchmal konnte sie für eine oder zwei Stunden in die umliegenden Höfe oder Dörfer gehen und versuchen, dort etwas zu kaufen oder einzutauschen.

      Davon erzählte meine Mutter oft. Einmal kam sie wieder zu einer Frau, bei der sie schon öfter war, und diese Frau wollte unbedingt, daß meine Mutter ihr wahrsagt. Meine Mutter konnte das gar nicht und sagte das auch der Frau, aber die bestand darauf. Und als sie dann dort war, war auch der Sohn der Familie da, einer von den Partisanen. Er fragte meine Mutter, wer den Krieg gewinnen wird, die Deutschen oder sie, die Polen. Meine Mutter hatte schon vorher gemerkt, daß der Sohn zu den Partisanen gehört, und antwortete ihm, daß die Deutschen den Krieg nicht gewinnen werden. Darauf hat ihr der Mann auf die Schulter geklopft und ihr auf polnisch gesagt: „Ist gut, und jetzt geh.“ Das hat unsere Mutter immer erzählt.

      Oh, lieber Gott, die armen Menschen. Alle litten unter großem Hunger, es war kalt, und es gab fast nichts zu essen. Ob jemand krank wurde, ob jemand sich kaum noch aufrecht halten konnte, es tat nichts, alle mußten zur Arbeit. Immer mußten die Menschen damit rechnen, daß sie erschossen werden, egal wo sie waren.

      Einmal, ich weiß nicht mehr, an welchem Ort, in welchem Ghetto das war, kam mitten in der Nacht die SS. Wir schliefen alle, und sie holten die Menschen aus den Häusern heraus, wir wohnten dort in solchen Steinbaracken. Die SS hat mit den Gewehren an die Türen geschlagen, alle mußten heraus. Alle mußten sich anziehen und raus. Die Menschen schrien durcheinander, viele wußten, daß die SS immer wieder Erschießungen vorgenommen hat. Sie schrien: „Jetzt werden wir alle ermordet!“ Sie wußten, was jetzt auf sie zukommen würde.

      Unsere Mutter ging mit dem Vater, meiner Schwester Renate und meinem Bruder Josef hinaus, ich war noch im Bett. Einer von den Deutschen kam, auch das hat meine Mutter immer wieder erzählt, er kam, und meine Mutter bat und bettelte, er möge die Großmutter und mich verschonen. Der Mann beugte sich über mein Bett und hat mich angesehen, dann sah er meine Mutter an und sagte: „Ich habe auch Kinder.“ Er ließ uns bleiben und sagte noch, wir sollten nichts davon sagen, sonst wäre er dran. Den Namen von dem Mann wußten wir nicht, er hatte sonst nichts gesagt. Ein anderer hätte das nicht gemacht.

      Es waren damals dort in dem Ghetto an die fünfhundert Sinti. Alle mußten auf die Kommandantur, dort wurden sie befragt, und es wurden die Arbeitsfähigen ausgesucht. Es wurde eine Liste der Arbeitsfähigen zusammengestellt, und auf der anderen Seite waren diejenigen, die krank waren oder die kleine Kinder hatten. Von den fünfhundert Sinti wurden neunzig oder hundert wieder zurückgeschickt, darunter meine Eltern und meine Geschwister. Die anderen wurden alle ermordet.

      Es fuhren Lastwagen vor, und die Familien wurden aufgeladen und in den Wald gefahren. Meine Mutter hat uns das erzählt, die Menschen hätten gewußt, daß sie ermordet werden sollen, sie hätten geschrien und sich gewehrt, die Menschen wurden von der SS weggerissen, mit den Gewehren haben sie auf die Menschen, auf die Kinder eingeschlagen. Mitten im Wald mußten die Sinti ihr eigenes Grab schaufeln.

      Wenn die Mama damals nicht gewesen wäre, dann wäre unser Vater damals auch ermordet worden. Die SS hatte auch ihn und die anderen Männer herausgeholt, da war auch der Heinrich Birkenfelder dabei, der dann in Heidelberg lebte. Die Männer wurden von polnischer Polizei bewacht. Unsere Mutter konnte Polnisch. Sie hatte eine Flasche Wodka organisiert, die nahm sie und lief dorthin. Sie lief zu einem Wachposten und sagte, ihr Mann sei da drin und sie müsse mit ihm sprechen.

      Der Posten ließ sie durch, und meine Mutter rief nach ihrem Mann und nach dem Birkenfelder. Als sie sie sah, rief sie ihnen zu: „Schnell raus hier, schnell!“ Sie sind vor zu dem Wachposten, meine Mutter warf ihm die Flasche Wodka zu, und sie sind gerannt. Der Wachposten stand da und hat sich nicht gerührt.

      Die anderen sind alle ermordet worden … Unter denen, die ermordet wurden, waren zwei Schwestern meiner Mutter, die Moza und ihre kleine Tochter Muri und die Mut mit ihren fünf Kindern. Meine Mutter wollte sie nicht fahren lassen, sie hat sich an dem Wagen, auf dem ihre Schwestern und ihre Nichten waren, festgeklammert. Die anderen Sinti, die bleiben konnten, haben sie losgerissen, weil sie sonst auch mitgenommen und ermordet worden wäre.

      Aus: … weggekommen. Berichte und Zeugnisse von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben, hrsg. von Daniel Strauß, zusammengestellt von Ilona und Reinhold Lagrene, Berlin/Wien 2002

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      „Die Gespräche wurden von uns so belassen, wie die Menschen geredet hatten. Beim Abschreiben sind meinem Mann und mir die Tränen gekommen.“

       „weggekommen“ – ein Wort, das in vielen Berichten und Zeugnissen von Sinti vorkommt, die den Völkermord der Nationalsozialisten überlebt haben. „weggekommen“, das heißt, aus den Städten und Gemeinden deportiert worden zu sein, in denen die Familien oft seit Generationen gelebt hatten. Das heißt, einer Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein, die nicht nachvollzogen werden konnte, gegen die sich die Verfolgten nicht wehren konnten, denn die Verfolgung war unabhängig vom jeweiligen Verhalten des Einzelnen. „Wir haben heute noch Albträume von dem, was wir erlitten haben. Eigentlich wollte ich nicht mehr darüber reden, aber ich tue es jetzt für viele andere, die es nicht mehr können.“

      Cornelia Wilß: Abgesehen von der politischen Bürgerrechtsarbeit und der Leitung des Landesverbandes haben Sie die Zeit gefunden, Überlebenden zuzuhören und ihre Geschichten für die Nachwelt festzuhalten. 2002 erschien das Buch weggekommen, das Sie gemeinsam mit Ihrem Mann veröffentlicht haben.

      Ilona Lagrene: Mein Mann und ich haben mit 35 Überlebenden Gespräche auf Romanes geführt und die Texte anschließend übersetzt und veröffentlicht. Das Buch ist heute vergriffen. Was wir mit den Menschen damals gemacht haben, war wichtig. Den Überlebenden fiel es nicht leicht, uns auch nicht. Sie wurden zum ersten Mal von Angehörigen ihrer Minderheit über ihre Leidensgeschichten befragt. Wir waren ein ganz anderes Gegenüber, als wenn jemand anderes sie befragt hätte. Sie wussten, dass wir wussten, was passiert war. Diese Erfahrung war für Reinhold und mich oft sehr schmerzlich. Wir haben die Leute in ihrem Redefluss nicht unterbrochen, nur manchmal nachgefragt und später gar nicht erst versucht, ihre Geschichten chronologisch zu ordnen. Die Gespräche wurden von uns so belassen, wie die Menschen geredet hatten. Beim Abschreiben sind meinem Mann und mir die Tränen gekommen. Das hat uns sehr berührt.

      Cornelia Wilß: Was beschäftigt Sie im Augenblick?

      Ilona Lagrene: Ich schaue mit Sorge in die Zukunft dieses Landes. Man muss Vertrauen in die Bundesregierung haben. Ich hoffe, die Bundeskanzlerin macht jetzt das Richtige, nicht das, was zum Beispiel die AfD will. Eins muss ich sagen, und ich betone es gern: Das, was unsere Bundeskanzlerin im Sommer 2015 in dieser schwierigen Situation an der Grenze zu Ungarn zu den flüchtenden Menschen gesagt hat, war richtig: Kommt! Das war richtig. Dafür hat sie meinen Respekt. Sie konnte nicht wissen, was später auf uns zukam. Das konnte damals keiner abschätzen. Ich denke, in unserem Land wäre in der Flüchtlingspolitik viel mehr möglich, wenn man besser organisieren würde. Ich finde die gegenwärtig geführte Diskussion abscheulich. Wenn man hört, dass sich Gauland erlaubt zu sagen, der Nationalsozialismus sei ein „Vogelschiss“ … Das ist ungeheuerlich.

      Cornelia Wilß: In diesem Jahr erscheint im Verlag Das Wunderhorn ein Buch Ihres Mannes, das den Titel trägt Djiparmissa.


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