Mare Manuscha. Группа авторов
hieß das „Umsiedlung“ von „Zigeunern“. Zeitgleich fanden solche Aktionen in Köln und Hamburg statt. Verschleppt wurden damals 2.800 Sinti und Roma. Später fand ich heraus, dass SS-Hauptscharführer Josef Eichberger vom Reichssicherheitshauptamt die Transporte nach Asperg organisiert hatte. Er wurde nach 1945 Leiter einer sogenannten Landfahrerzentrale, in der Sinti und Roma verfassungswidrig registriert wurden – mit Fingerabdruck. Für das Naziregime hatte er bereits in der Münchner „Zigeunerzentrale“ gearbeitet. Auch SS-Standartenführer Paul Werner, der die Deportation vom Mai 1940 geplant hatte, war bis in die 1960er Jahre Ministerialbeamter in Baden-Württemberg.
Die Stadt Asperg war zwar einverstanden, am Bahnhof eine Gedenktafel anzubringen. Aber die Bahn wollte es verhindern. Was blieb mir übrig? Ich musste an die Öffentlichkeit gehen. Erst nachdem sich der Verkehrsminister und Ludwigsburger Bundestagsabgeordnete Matthias Wissmann eingemischt hatte, gab die Bahn AG in Frankfurt 1995 ihre Genehmigung für die Gedenktafel. Das war für viele Überlebende damals etwas ganz Besonderes. Endlich war das erlittene Unrecht für alle sichtbar. Am Tag der Einweihung sind Überlebende und ihre Nachkommen mit dem Bus zum Hohenasperg hochgefahren und zu Fuß den Weg von dem dort von den Nationalsozialisten eingerichteten Sammellager hinunter zum Bahnhof gegangen. Wir wollten daran erinnern, dass die Verschleppung vor den Augen der Stadtbewohner stattgefunden hatte.
Cornelia Wilß: Auch die Stadt Tübingen war von der Idee einer öffentlichen Gedenktafel nicht angetan.
Ilona Lagrene: Im Gegenteil! Ausgerechnet in Tübingen, wo der Rassenwahn durch die sogenannten Rassenforscher Robert Ritter und Eva Justin mit entstanden war, wollte man keine Gedenktafel haben. Also entschied ich mich, eine öffentliche Veranstaltung in Tübingen zu initiieren, bei der auch Überlebende anwesend waren. Die damalige Bundesvorsitzende der SPD, Herta Däubler-Gmelin, hat unsere Forderung nach einer Gedenktafel an der Mauer der Stiftskirche unterstützt. Es hat aber trotzdem drei Jahre gedauert, bis 1995 die Tafel eingeweiht wurde. Vorher hatte der Ortsgruppenverein der SPD, der Senioren, einmal nachts eine Holztafel mit unserem Text an der Stiftskirche angebracht. Das war eine tolle Aktion. (lacht laut) Genau an der Stelle wollte ich unsere Tafel haben. Dort befand sich ja auch die Gedenktafel für die verfolgten jüdischen Menschen. Neben ihr sollte unsere Gedenktafel für die ermordeten Sinti und Roma hängen.
1 Hildegard Lagrenne (Schreibweise auch: Lagrene) (* 1921, † 29. März 2007 in Mannheim) war Überlebende des nationalsozialistischen Völkermords an den Roma und Sinti, Mitarbeiterin beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und im Dokumentations- und Kulturzentrum des Zentralrats in Heidelberg sowie seit 1997 Trägerin der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg.
Ilona Lagrene vor der Gedenktafel in Heidelberg in der Steingasse
Cornelia Wilß: Hat die jüdische Gemeinde Sie unterstützt?
Ilona Lagrene: In Tübingen damals nicht. Vieles war damals nicht selbstverständlich, zum Beispiel, als anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes das Sekretariat des Ministerpräsidenten unseren Landesverband eingeladen hatte …
Cornelia Wilß: Was war daran ungewöhnlich?
Ilona Lagrene: Na ja. Ich erhielt einen Platz in der dritten Reihe, und auf meine Bitte, im Anschluss an die Feierlichkeit dem Ministerpräsidenten gemeinsam mit den Überlebenden Gedenkbücher überreichen zu dürfen, lautete die Antwort, dass dies leider nicht möglich sei, verbunden mit dem Angebot, dass ich in der zweiten Reihe sitzen könne. Darauf antwortete ich: Wenn es nicht möglich sein sollte, im Anschluss an die Feier die Überlebenden zu empfangen und dem Herrn Ministerpräsidenten die Gedenkbücher zu übergeben, sähen wir uns leider gezwungen, nicht an den Feierlichkeiten teilzunehmen und dies der Presse mitzuteilen. Die Reaktion aus Stuttgart fiel erfreulich knapp aus: Der Empfang finde im Anschluss statt. Und ich rückte unerwartet eine Reihe weiter nach vorn und saß nun in der ersten Reihe. Man konnte sie letztlich doch kriegen. (lacht) …
Ich möchte noch etwas nachtragen. Die Begegnung mit dem Ministerpräsidenten – das war Erwin Teufel – hat damals Früchte getragen. Die Sinti, die beim Empfang anwesend waren, haben alle Schwäbisch gesprochen. Erwin Teufel war ganz erstaunt: „Mensch, Kinder, ihr seid ja von unsre Leut’.“ Er war gebürtiger Rottweiler, und als er sich mit einer Frau aus Rottweil unterhielt, war das Eis gebrochen. Er ist übrigens bis heute Kuratoriumsmitglied im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg.
Romeo Franz: Das ist jetzt 23 Jahre her. Das war nun keine Zeit mehr, die besonders gestrig war, oder? Dennoch gab es dieses despektierliche Verhalten der Regierung auf allen Ebenen gegenüber unseren Menschen … War das etwas anderes als Antiziganismus? Die Mehrheit der Deutschen war damals Sinti und Roma gegenüber ablehnend eingestellt. Damals ergaben zwei Studien, dass 68 Prozent der Deutschen keine „Zigeuner“ als Nachbarn haben wollten. Das Allensbacher Institut ermittelte 1992, dass 64 Prozent der Deutschen eine negative Meinung über Sinti und Roma hatten.2
Cornelia Wilß: Was käme bei Umfragen heute heraus?
Ilona Lagrene: Im Moment schlägt die Stimmung wieder um …
Romeo Franz: Ja. Die Leipziger „Mitte“-Studie aus dem Jahr 2016 hat erbracht, dass 60 Prozent der Deutschen Sinti und Roma aus Deutschland ausweisen möchten. Aufgrund des Rechtsrucks, den wir gerade haben, richtet sich der Fokus in der Mehrheitsgesellschaft aktuell auf die flüchtenden Menschen. Geringer geworden ist die Diskriminierung der Minderheit der Sinti und Roma auf keinen Fall. Unsere Möglichkeiten haben sich jedoch verbessert. Der Landesverband Baden-Württemberg hat zum Beispiel seit fünf Jahren einen Staatsvertrag.3 Daran hast du, Ilona, großen Anteil. Heute ist unser Verhältnis zur Regierung in Baden-Württemberg ein völlig anderes als vor 23 Jahren. Heute sind wir Partner. Es gibt einen Rat für die Angelegenheiten der Roma und Sinti. Dort tauschen sich Fachleute aus und geben ihre Vorschläge ans Staatsministerium weiter. Eine Partizipation auf dieser Ebene gab es damals nicht. Du hast die Vorarbeit dafür geleistet und den Grundstock gelegt, auf dem die nächste Generation aufbauen und deine Arbeit weiterführen konnte.
Foto: privat
Auszug aus den Erinnerungen von Lore Georg, der Schwester von Ilona Lagrene:
„Wann kommen wir dran?“
Wir wohnten damals in Ludwigshafen, bis wir 1940 weggekommen sind. Ich war damals erst zwei Jahre alt. Meine Mutter hat mir später viel erzählt, daher weiß ich vieles von unserer Familie. Wir wohnten in einer Gartenkolonie, in einem Gartenhaus. Das Haus hatten meine Eltern schön hergerichtet. Meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, wohnte mit uns. In der Kolonie wohnten auch viele andere Sintifamilien. Meine Mutter kannte sie alle.
Mein Vater arbeitete in der BASF. Er hat nicht viel verdient damals, nur ein paar Mark. Unsere Familie durfte ihr Gewerbe nicht mehr ausüben, meine Eltern hatten früher beide ihren Gewerbeschein, sie waren da selbständig. Später haben sie den Gewerbeschein nicht mehr bekommen, sie durften nicht mehr Handel treiben. Meine Mutter ging trotzdem noch hausieren, weil sie Geld verdienen mußte. Das Geld, das unser Vater verdiente, reichte nicht für uns zum Leben. Die Mutter zog ein elegantes Kleid an und einen Hut, so daß sie nicht wie eine Sinteza aussah. In ihrer Handtasche hatte sie dann eine kleine Garnitur von Spitzendecken, die versuchte sie zu verkaufen. Das ging noch 1938 und 1939. Dann mußten unsere Eltern auf die Kriminalpolizei kommen, dort wurde ihnen gesagt, daß sie die Stadt nicht mehr verlassen durften und daß sie ihr Gewerbe nicht mehr ausüben durften.
1940 war es, als unsere Familie auf den Transport nach Polen kam. Damals lebte bei uns noch eine Nichte meiner Mutter, zusammen mit ihrer kleinen Tochter. Die beiden kamen mit uns auf den Transport nach Polen. Zuerst ging es nach Hohenasperg, von da nach Polen.