Lanterne Rouge. Max Leonard

Lanterne Rouge - Max  Leonard


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erklärte Pescheux voller Verachtung, »voilà! Es ist eine Frage der Fairness.«

      Wahrscheinlich hat er ganz anderes darüber gedacht, als er noch im autobus fuhr, der Gruppe der Sprinter und langsamen Fahrer, die sich in den Bergen aus Solidarität und zur Selbsthilfe zusammenschließen, um gegenseitig für ihr Überleben zu sorgen, wenn die Straße aufwärts führt und der Schnitt durch die Karenzzeit droht. Denn die Fahrer – insbesondere die schwereren und diejenigen, die schwach, krank oder verletzt sind – betrachten die Karenzzeitregel oft als hart und erbarmungslos, und für den Letzten auf einer Etappe wirkt er wie eine Guillotine, die seine Existenz als Tourteilnehmer bedroht.

      Allerdings ist diese Regel nicht starr, sondern wird auch gern gebrochen. Wie jeder weiß, der schon einmal ein Intervalltraining auf einem Turbotrainer gemacht hat, ist Zeit eine wunderbare, aber auch grausam elastische Sache. Die eine Minute der Erholung mit entspannten Armen, gesenktem Kopf und langsam trampelnden, zitternden Beinen geht im Nu vorüber, während sich 30 Sekunden Anstrengung zu einer klebrigen Ewigkeit dehnen, in der die LCD-Anzeige der Stoppuhr wie durch einen Sumpf zu waten scheint und kaum vorwärtskommt. Ebenso verhält es sich mit der Karenzzeit, die nach Belieben der commissaires – der Kampfrichter – verlängert oder ganz aufgegeben werden kann. Die Geschichte der Tour ist voll von Beispielen für repêchage, also Fahrer, die die Karenzzeit überschritten, aber aufgrund ihrer tapferen Haltung angesichts einer Verletzung oder aus anderen Gründen trotzdem weiter zugelassen wurden. Repêchage – wörtlich »Herausfischen« – ist ein großes Wort, das den Eindruck erweckt, als ob sich eine mehr oder weniger wohlmeinende höhere Macht in der Grube der Verzweiflung umsähe, um Fahrer herauszufischen und wieder auf ihre Räder zu setzen.

      Wenn vor Pescheux' Änderungen ca. 20 % des Pelotons die Karenzzeit überschritten, wurden alle wieder zugelassen. 2013 wurde ein unbedingter Schnitt eingeführt, allerdings wurde er jetzt auf spezifischere Weise berechnet und erlaubte beispielsweise einen größeren Zeitabstand auf kurzen Bergetappen als auf längeren, um das erhöhte Tempo zu berücksichtigen, das Bergfahrer und die Stars der Gesamtwertung auf solchen Etappen vorgeben. Beispielsweise schlossen alle Fahrer die 125 km lange Etappe Annecy–La Semnoz bei der Tour 2013 in ausreichender Zeit ab, mehr als zehn Minuten vor dem Schnitt. Es gab jedoch noch keine Situation mit einem Massenausschluss, in der sich hätte zeigen können, wie hart die Herzen der Organisatoren wirklich sind.

      Die Beschäftigung mit dem rückwärtigen Ende des Rennens war eine von Pescheux' letzten Maßnahmen, doch für Jacques Goddet war es die erste, als er 1936 den Posten des Rennleiters erbte. Sowohl er als auch Desgrange, der das Rennen in Charleville verlassen hatte und nun vom Schreibtisch aus verfolgte, waren mit der Frage beschäftigt, wie sie die Rennfahrer dazu bringen konnten, auch tatsächlich ein Rennen zu fahren. Beide beklagten sich über träge Fahrer, die es auf flachen Etappen gut sein ließen, um in den Bergen kräftig in die Pedale zu treten, die sich im Peloton versteckten, um das Ausmaß an persönlicher Anstrengung zu verringern, oder die »nur« auf den letzten 200 km der 350-km-Etappe Tempo vorlegten. »Goddet wollte gern einen Sprintbonus alle fünf Kilometer einführen, um das Rennen anzuheizen«, berichtete Pescheux über seinen ehemaligen Chef, »er hatte immer außerordentliche Ideen. Es gefiel ihm nicht, wenn die Fahrer mit 20 km/h darinradelten und nichts passierte. Für ihn musste es immer Action geben.«

      Im Jahr 1939 krempelte Goddet das Rennen um. Er erhöhte die Anzahl der Etappen von 15 auf 24, indem er sie alle verkürzte, und führte eine Reihe von Maßnahmen ein, um zu einem schnelleren und spektakuläreren Rennen zu kommen. Zu den einleuchtendsten Maßnahmen gehörten die Departs Séparés, also das, was wir heute Zeitfahren nennen, darunter die erste Bergzeitfahretappe der Tour überhaupt. Sie führte über den höchsten Alpenpass, den 2770 m hohen Col de L'Iseran. 1939 gab es gleich eine Menge solcher Etappen. Des Weiteren gab es viel mehr Zeitbonusse, darunter auch Bergbonusse, und ein kompliziertes System zur Verteilung des Preisgeldes am Ende der Etappe. Wenn ein Fahrer mit mehr als 20 Minuten Vorsprung gewann, konnte er die Hälfte der Preisgelder für alle anderen in dieser Etappe einstecken. Trafen sieben Fahrer zusammen ein, gaben die Preisrichter ihr Bestes, um sie zu klassifizieren und ihnen das zustehende Preisgeld zuzuteilen. Bei einer Gruppe von zwölf Fahrern wurde der Topf gleichmäßig aufgeteilt, und bei 13 und mehr verkleinert. Außerdem mussten alle größeren Gruppen damit rechnen, dass sie am nächsten Tag zu einem Ausscheidungswettkampf in Form eines 1000-m-Sprints im Velodrom antreten mussten.

      Sind Ihnen jetzt sämtliche Regeln klar? Augenblick, es gibt noch eine weitere: »Nach jeder der ersten 14 Etappen, ausgenommen der ersten, wird der letzte Fahrer in der Gesamtwertung ausgeschlossen.«

      Mit dieser Regel, Artikel 41, wurde etwas wie eine Straßenversion der weitverbreiteten Rennbahnmethode eingeführt, die als »Devil« bezeichnet wird (nach der englischen Entsprechung des Sprichworts »den Letzten beißen die Hunde«, bei der der Teufel die Rolle der Hunde übernimmt: »the Devil takes the hindmost«; bei der modernen Omnium-Veranstaltung wird allerdings schlicht von einem »Ausscheidungsrennen« gesprochen). Bei der früheren Version der Regel von 1938 konnte es an mehreren Stellen im Rennen zu einem Massenausschluss von Fahrern kommen, die ein, zwei oder drei Stunden hinter dem Etappensieger zurücklagen. Mit anderen Worten, dieses Schicksal konnte jeden treffen, der zwar noch in der Karenzzeit lag, aber nicht in der Lage war, irgendeine Verbindung zum vorderen Ende zu halten. Die verbesserte Version sollte weniger barbarisch wirken, und obwohl jeden Tag der Letzte aus dem Rennen entfernt wurde, zielte diese Regelung nicht ausdrücklich auf die lanterne rouge ab. Sie solle vielmehr den Teamgeist stärken und den »unfairen« Vorteil durch domestiques beseitigen: Die führenden Fahrer im Team waren jetzt gezwungen, den »Märtyrer zu wechseln«, also sich zur Hilfeleistung nicht immer auf denselben Mann zu stützen. Auch die Bergfahrer mussten in der ersten Woche härter arbeiten, um im Rennen zu bleiben, denn sie konnten ihre Kräfte nicht mehr für ihr bevorzugtes Gelände sparen. »Jeder Mann muss sich einbringen und Hand anlegen«, schrieb Desgrange.

      Und so begann die Tour 1939. Nach der ersten Etappe, die Amédée Fournier vom nordostfranzösischen Regionalteam15 im Sprint gewann, dominierten die Belgier. Nach jeder Etappe wurde ein Mann ohne viel Federlesens ausgeschlossen – erst Leisen, dann Dubois, dann Bouffier, dann Bidinger. Nun, zumindest bis zur sechsten Etappe, die von La Rochelle nach Royan führte und auf der Jean Majerus vom luxemburgischen Team auf dem letzten Platz erwischt und zur Strafe des Rennens verwiesen wurde. Der »große, attraktive« Majerus war eine Art Star. Als Meistertaktiker auf flachen Etappen hatte er auf der Tour 1938 fünf Tage lang das Gelbe Trikot getragen. »Ich habe heute auf Pierre Clemens gewartet, als er einen Platten hatte. Danach wurde ich aus der Anfangsformation genommen, was noch weiter zu meinem Defizit beitrug«, erklärte Majerus, wieso er so viel Zeit verloren hatte, »aber ich dachte, ich würde es schaffen, da Maestranzi als Letzter hinterherhinkte.« Mit der beruhigenden Gewissheit, dass Maestranzi hinter ihm lag, nahm er die lange, einsame Straße auf dem Weg zur Ziellinie auf sich. »[Maestranzi] lag allerdings so weit zurück, dass er nicht innerhalb der Karanzzeit in Royan eintraf«, fuhr Majerus fort, »weshalb er ausgeschlossen und ich zur lanterne rouge wurde.«

      Nachdem Maestranzi wegen Verfehlens der Karenzzeit ausgeschlossen worden war, musste nun Majerus um seinen Kopf bangen. Er war es nicht gewöhnt, am hinteren Ende zu fahren. Seine schlechte Verfassung bei der bis dahin schnellsten Tour führte er darauf zurück, dass er in der Zeit davor zu viele Rennen gefahren sei, insbesondere die anstrengende Tour Bordeaux–Paris. Er hatte gegen Müdigkeit, unebenes Gelände und scharfen Gegenwind zu kämpfen, und es war eine lange, langsame Fahrt auf dem Weg zum Ausschluss gewesen.

      Am nächsten Tag, einem Ruhetag, erhob sich ein Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit von Majerus' Ausschluss. Als katastrophal wurde sie gar von Mathias Clemens bezeichnet, dem Leiter des kombinierten schweizerisch-luxemburgischen Teams, das aufgrund der neuen Regel bereits drei seiner Mitglieder eingebüßt hatte und nun nur vier Mann stark war. Majerus war ein Stützpfeiler des Teams und laut Clemens derjenige, der den Teamgeist aufrechterhielt. »Ohne Majerus, so glaube ich, haben wir diese Tour verloren«, klagte er.

      In einem Brief an Henri Desgrange, der in L'Auto veröffentlicht wurde, drückte Majerus seine Enttäuschung aus, aber die Rennleitung blieb hart und nahm den Ausschluss nicht zurück.16

      Die Tour 1939 war schon von Anfang an knapp an Stars, insbesondere, da die Deutschen


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