Lanterne Rouge. Max Leonard

Lanterne Rouge - Max  Leonard


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siècle eher an Absinth, Kabarett und Madeleines interessiert. Der Robert verweist auch auf die roten Laternen der maisons closes – der Bordelle –, von denen der Begriff des »Rotlichtviertels« abgeleitet ist. Aber das ist eine falsche Spur (oder, um im Bild zu bleiben, ein »red herring«, wie es im Englischen heißt). Radrennfahrer der guten, alten Zeit führten tatsächlich Lampen mit. Graeme Fife, Autor von Büchern wie Tour de France: The History, the Legend, the Rides, erzählte mir von einer Zeichnung in einer Ausgabe der Illustrated London News vom Ende des 19. Jahrhunderts. Darauf sind die Mitglieder eines Clubs zu sehen, die auf einem Sammelsurium von verschiedenen Fahrradmodellen von einem Treffen zurückfahren. Mit den kugelförmigen und zylindrischen chinesischen Papierlaternen, die an Stangen an ihren Fahrrädern befestigt sind, wirken sie wie ein Sanktmartinszug.

      Auch die Profis nutzten Lampen, vorzugsweise Öllampen, da viele Rennen der ersten Stunde auch bei Dunkelheit fortgesetzt wurden, wenn sich die Fahrer auf schlechten Straßen abmühten, die verlangten Strecken zurückzulegen. Auch wenn die bildliche Vorstellung gebräuchlich war, ist es unwahrscheinlich, dass der Letzte bei der Tour de France jemals eine rote Laterne führte, unter anderem auch aus logistischen Gründen. Wenn die Tour zu Ende geht, wird dem Letzten jedoch oft eine symbolische Laterne überreicht, gewöhnlich auf der letzten Etappe, wenn nicht mehr genug Luft ist, um seine Platzierung zu verbessern. Fife hat mir auch ein Foto aus den 20er Jahren gezeigt, auf dem zwei Tour-Teilnehmer Seite an Seite radeln. Beide halten einen Stock, an dessen Ende eine Konservendosen-Laterne angebunden ist. Die beiden grinsen breit und ein wenig spitzbübisch, »wie zwei Jungs, die vom Kaulquappenfang nach Hause gehen«, um mit Fife zu sprechen. Diese Dose sieht wirklich wie eine symbolische Laterne aus, was die Vorstellung stützt, dass die lanterne rouge schon in der Frühzeit der Tour ein Preis war, der eine gewisse Selbstkritik und Selbstironie ausdrückte. Noch heute erhält der Letztplatzierte der Tour vor den Champs-Élysées oft eine symbolische Laterne, die entweder von den Pressefotografen oder seinem eigenen Fanclub gestiftet wird. Jedes Jahr tauchen auch einige gestellte Fotos des Fahrers mit der lanterne auf. Manchmal ist er dabei zu sehen, wie er hinter dem Peloton herfährt, sich umdreht und in die Kamera lächelt; manchmal wird ihm die Laterne von anderen Radfahrern überreicht; und manchmal steht er mit einem Fan auf den Champs-Élysées oder bei den Mannschaftsbussen. Diese Fotos zeichnen sich durch gestellte Posen und einen undefinierbaren Ausdruck im Blick des Fahrers aus. Es ist nicht gerade Scham, sondern das ganze Spektrum von amüsiert über verlegen und peinlich bis zu trotzig – das unangenehme Gefühl, bei der Feier des letzten Platzes auf Film festgehalten zu werden. Dafür habe ich nicht mit dem Radsport angefangen!

      Aber immerhin sind diese Männer ans Ziel gekommen. Georges Devilly hat es getan, und zwar allein, ohne eine Mannschaft oder wenigstens den Besenwagen als Gesellschaft (der wurde erst 1910 eingeführt). Vielleicht wog er unterwegs ab, was ihn mehr kosten würde – weiterzumachen oder aufzugeben, am Zielort seine Sachen zu packen und sich geschlagen auf den Heimweg zu begeben. Ohne den Gummiengpass wäre er 1919 sogar erneut angetreten.

      Devilly und Desgrange hatten mich auf einen langen Umweg geschickt, auf eine Eisenbahnfahrt, zu den Ford-Werken in Michigan, in das zwielichtige Pariser Nachtleben und das Naturkundemuseum. Dabei hatte ich die Tour von 1919 wegen einer Geschichte außerordentlicher Ausdauer recherchiert, bei der ein unwahrscheinlicher Sieger der französischen Nation das Gefühl gab, als hätte sie den Großen Krieg unversehrt überstanden. Also kehrte ich zu dem Jahr zurück, in dem halb Europa die Kosten des Krieges in Form von zerstörten Dörfern und Städten, verwüsteten Feldern, Straßen und Eisenbahnlinien zählte. In Frankreich herrschte eine gequälte und niedergedrückte Stimmung. Fast 2,5 Millionen waren entweder ums Leben gekommen oder als Invaliden heimgekehrt. Unter ihnen waren auch frühere Tourgewinner: Octave Lapize und Lucien Petit-Breton waren tot, desgleichen François Faber, der Luxemburger, der 1909 seiner Konkurrenz davongefahren war. Der Rest des Pelotons war ausgedünnt und hatte sich zerstreut. Außerdem waren die Männer nicht ausreichend in Form. Es war schon schwierig, sie an die Startlinie zu bekommen.

      Es gab jedoch eine starke öffentliche Nachfrage nach der Tour, einem nationalen Symbol, zur Unterhaltung und zur moralischen Stärkung. »Die Tour ist aus der Asche wiedergeboren«, schrieb Henri Desgrange Anfang 1919. Die Erfüllung dieses Versprechens erwies sich als nicht einfach, und die Tour war auch nicht das einzige Rennen, das in diesem Jahr in Schwierigkeiten geriet. Im Januar, weniger als drei Monate nach dem Waffenstillstand, hatte die Zeitung Le Petit Journal versucht, L'Auto mit einem neuen Rennen zuvorzukommen, dem Circuit des Champs de Bataille (dem »Schlachtfelder-Rundrennen«), das im April stattfinden sollte. Die Organisatoren hatten eine Route abgesteckt, die über Straßburg, Luxemburg, Brüssel, Amiens, Bar-le-Duc und Belfort führte, und dabei die Warnungen der lokalen Presse ignoriert, dass die Straßen dort, im Kernland der Verwüstungen an den Grenzen zu Belgien und Deutschland, unbrauchbar waren. Sie hatten sogar argumentiert, dass gerade der fürchterliche Zustand der Region den Besuch lohnte: Ein solches Rennen wäre ein Symbol der Solidarität, der Wiederherstellung und Hoffnung und ein Willkommensgruß an einige ehemals deutsche Provinzen, die nun wieder zu Frankreich gehörten. In der Woche vor dem Circuit wurde die Tour Paris–Roubaix abgehalten, doch die Bedingungen waren so schlecht, dass es nur fünf von 40 Begleitfahrzeugen gelang, das Niemandsland auf dem Weg nach Roubaix zu überwinden. Auch der Circuit des Champs de Bataille hatte eine furchtbare Ausfallquote. Schnee, Schneeregen und Hagel verschlimmerten den ohnehin miserablen Straßenzustand noch, und schließlich kamen nur »13 heldenhafte Überlebende« (wie eine Zeitung sie titulierte) ans Ziel.

      Desgrange wischte all diese Schwierigkeiten hinweg und plante eine anspruchsvolle 5560-Kilometer-Route, die durch die Schweiz und in die neutrale Zone, dann durch die frisch eroberte Region Elsass-Lothringen und die Schlachtfelder von der Somme nach Dünkirchen führte. Es war bis heute die längste Tour. Die Strecke sollte in 14 Etappen durchlaufen werden, und das Rennen sollte der Welt – und auch Frankreich selbst – zeigen, dass das Land wieder auf festen Beinen stand.

      Sofort stieß er auf logistische Probleme. Neben dem furchtbaren Zustand der Straßen behinderten auch Kontrollpunkte und militärische Bürokratie den Verlauf des Rennens, und die Fahrer hatten die strikte Anweisung erhalten, ihre Pässe mitzuführen. Die Herausforderungen waren nicht auf die Strecke beschränkt: Der Reifenmangel, dem sich Georges Devilly10 gegenübersah, war nur einer der vielen wirtschaftlichen Engpässe, die Desgranges Aufgabe erschwerten. Desgrange nahm sie persönlich, als ob es sich nicht um vielschichtige geopolitische Zusammenhänge und eine weltweite Tragödie von großem Ausmaß handelte, sondern um eine Vendetta gegen ihn und sein Rennen. In L'Auto äußert er sich ungewöhnlich niedergeschlagen über seine Verantwortung:

      Seit unsere Zeitung die Tour de France organisiert, ist mir diese Herausforderung noch nie so schwierig, ja, furchteinflößend vorgekommen wie in diesem Jahr. Vor dem Krieg erschien der Start jeder unserer »Tours« wie der Anbruch eines wunderbaren Monats voller herausragender Leistungen und großem Mut. Dieses Jahr habe ich den Eindruck, als sei die teure Leinwand von Strolchen beschmutzt, die mit Dreck um sich werfen. Einige Einzelheiten machen meinen Standpunkt wahrscheinlich klarer: Wir hatten für jede Etappe einen Vorrat an neuen Reifen vorgesehen, aber ich habe keine gefunden, obwohl ich bei allen Türen angeklopft habe. Die Lebenshaltungskosten, eine weitere Hinterlassenschaft des Krieges, rufen Streiks in den Fabriken hervor. Wie soll es unseren Fahrern ergehen? Wir haben vorgehabt, sie auf jeder Etappe zweimal mit Nahrung zu versorgen, aber uns fehlt Zucker – wieder der Krieg! –, und die erforderliche Menge, die wir in Antwerpen bestellt haben, wurde gestern an der Grenze aufgehalten (obwohl es keine Einfuhrbeschränkungen gibt).

      Das Klagelied setzt sich mit ausgebuchten oder geschlossenen Hotels und Zweifeln über die motorisierten Vorreiter der Tour fort: »Mit unserer Motorradgarde haben wir beispiellose Schwierigkeiten. Im Krieg – und jetzt schon wieder! – wurden alle Motorräder requiriert.«

      Auch die Fahrradbranche war in Schwierigkeiten. Viele Fabriken in Frankreich hatten während des Krieges ihre Produktion umgestellt, waren bei Kämpfen zerstört worden und verfügten nicht über genügend Rohstoffe. Den Fahrradherstellern ging es so schlecht, dass sie es sich nicht leisten konnten, eigene Mannschaften aufzustellen. Stattdessen schlossen sie sich zusammen, um ein gemeinsames Team zu sponsern, La Sportive. Trotz mangelhafter Mittel ließ diese Mannschaft das Konzept des professionellen Radsports wieder auferstehen und half dabei, die


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