Lanterne Rouge. Max Leonard
zu absolvieren.
Henri Desgrange und viele seiner Zeitgenossen liebten es, über la vélocipédie zu schwadronieren – das Radfahren im großen Stil, als Bewegung, als Branche und als Berufung. Arsène war ein Fanatiker, ein echtes Mitglied des Fahrradbooms der 1890er. Als armer Mechaniker (im Alter von 81 Jahren arbeitete er immer noch) war er mehr für Härten geboren als für Triumphe und verließ sich ganz auf seine Beine, um sich seine wenigen Top-10-Platzierungen zu erkämpfen und damit ein bisschen zusätzliches Geld zu verdienen.
»Sein ganzes Leben ist ein Radrennen«, schrieb der Miroir Sprint 1947, und Arsène blieb kämpferisch bis zum Schluss. In der Zeitschrift hieß es weiter: »Nur wenige Monate zuvor bestand M. Millochaus großer Wunsch darin, ein höheres Alter zu erreichen als Gaston Rivierre, sein ruhmreicher Gegner aus jener heroischen Zeit, der vor vier Jahren im Alter von 80 Jahren und vier Monaten gestorben ist.« Millochau starb am 4. Mai 1948, weniger als ein Jahr nach dem Erscheinen des Artikels, im Alter von 81 Jahren. Sein letztes Rennen hatte er gewonnen.
1903
60 Teilnehmer am Start
Sieger: Maurice Garin, 25,68 km/h
Lanterne rouge: Arsène Millochau, 15,24 km/h, 64 h 57' 08" Abstand
21 Finalisten
KAPITEL 2
DER ÜBERLEBENDE
Bei der idealen Tour gelingt es nur einem einzigen Fahrer, die gesamte Strecke zu absolvieren.
Henri Desgrange
Zurück in den Tiefen der Bibliothek war ich eifrig bemüht, mich nicht den Reihen der Besucher anzuschließen, die hier ein Nickerchen abhielten, als ich plötzlich etwas Bemerkenswertes entdeckte: Bei der Lektüren eines Mikrofilms über die 13. Tour im Jahr 1919 stolperte ich über den Begriff lanterne rouge.
»Devilly ist bei unserer Tour de France nicht losgefahren«, schrieb Henri Desgrange ein oder zwei Tage nach dem Beginn des Rennens, »da er nicht genügend Reifen auftreiben konnte. Es ist eine Schande: Die ehemalige lanterne rouge hätte vielen Fahrern eine Lektion in Sachen Mut erteilen können.«
Georges Devilly war 1909 lanterne rouge gewesen, als er als isolé teilgenommen hatte – als Einzelfahrer, der nicht von einem Fahrradhersteller wie Clément, Peugeot oder Alcyon unterstützt wurde. Dies waren zur damaligen Zeit die Hauptsponsoren der professionellen Radsportler. Sie nutzten die Siege ihrer Fahrer für Werbezwecke und gewannen in Folge immer mehr Macht und Einfluss auf den Sport. Die Grenze zwischen Profis und Amateuren war jedoch unglaublich fließend. Keinen Sponsor zu haben, bedeutete nicht, ein schlechter Radfahrer zu sein. Der erste isolé des Jahres 1909 machte den sechsten Platz und gewann einen erheblichen Geldpreis.8 Georges war früher für Alcyon und Le Globe gefahren. Vielleicht lag es an einem momentanen Formtief, dass er an der Tour als isolé teilnahm (beim Rennen Paris–Brüssel war er erst eine Woche zuvor Drittletzter geworden) und den Wettkampf mit dem 55sten und letzten Platz9 abschloss. Isolés mussten für ihre gesam ten Reisekosten über die 14 Etappen selbst aufkommen. Das war eine Menge Geld für das Vorrecht, als Letzter durchs Ziel gehen zu können.
Ich hatte mir schon Gedanken über den Ursprung des Begriffs lanterne rouge gemacht. Französische Wörterbücher zum Radsportjargon datierten den Ausdruck auf das Jahr 1924, in dem der Journalist Albert Londres ihn in seinem berühmten Artikel Les Forçats de la Route (»Die Zwangsarbeiter der Strecke«) gebrauchte, aber er ist offensichtlich viel älter. Aus ein paar Gründen schloss ich, dass er im ersten Jahrzehnt der Tour geprägt worden war. Erstens: Wenn Desgrange Devilly im Jahr 1919 als lanterne rouge bezeichnete, musste dieses Beiwort schon vor dem Ersten Weltkrieg in Gebrauch gewesen sein. Das Rennen von 1924 war das erste seit 1919, und damit dieser Ausdruck die vierjährige Pause überlebt haben konnte, musste er im Sprachgebrauch der Radfahrer schon fest etabliert gewesen sein. Das musste jedoch nicht bedeuten, dass der Begriff schon 1909 geläufig gewesen war, denn George hätte diese Auszeichnung auch rückwirkend erhalten können. Zweitens: Ich lehne mich jetzt einmal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, dass diese Bezeichnung erst mit der Tour ins Leben gerufen wurde und nicht vorher. Nicht nur die Sprache ist ein Hinweis; es gibt auch gute Gründe für die Annahme, dass der Kult um die lanterne rouge nicht bei einem Ein-Tages-Rennen entstanden ist. Lassen Sie mich das erklären: Bei einem üblichen Ein-Tages-Rennen ohne Handicaps stellen sich alle Teilnehmer ohne Rangfolge und offizielle Hierarchie am Start auf. Das Rennen beginnt, und alle rasen Richtung Ziel und versuchen dabei, den ersten Platz zu machen. Während der Fahrt nehmen viele verschiedene Personen die letzte Stelle ein. Erst mit dem Überqueren der Ziellinie wird die Klassifizierung sozusagen in Stein gemeißelt.
Wer als Erster eintrifft, ist der Sieger, wer als Letzter kommt, nimmt den letzten Platz ein. Damit ist das Rennen gelaufen. Wenn der Letztplatzierte am nächsten Tag wieder antritt, so ist das ein Neuanfang: Theoretisch ist er seinen Gegnern wieder gleichgestellt.
Vielleicht ist auch bei den besonders langen Rennen wie der Tour Paris–Brest–Paris der letzte Mann im Peloton schon als lanterne rouge bezeichnet worden. Aber nur bei einem Etappenrennen und nur nach Einführung einer Gesamtwertung konnte es vorkommen, dass ein Fahrer mehrere Tage hintereinander das Schlusslicht bildete. Wenn er als Letztplatzierter ins Bett geht, steht er auch als Letztplatzierter wieder auf, und wenn er sich am nächsten Tag auf sein Fahrrad schwingt, fährt er immer noch auf dem letzten Platz – möglicherweise fast einen ganzen Monat lang. Ich will nicht behaupten, dass die Gesamtwertung mit der Tour de France erfunden wurde, aber sie war meines Wissens das erste Etappenrennen der Welt und erregte in der lokalen, nationalen und internationalen Presse erhebliche Aufmerksamkeit. Nur unter diesen Umständen, so scheint es mir, konnte ein Kult um den Mann aufkommen, der den letzten Platz einnahm.
Nachdem ich die Erwähnung der lanterne im Zusammenhang mit Georges Devilly entdeckt hatte, durchstöberte ich viele der Vorkriegsausgaben von L'Auto, konnte das Zauberwort aber nicht mehr finden. Möglicherweise war es nicht die erste Erwähnung im Druck, aber ich bin mit 1919 sehr zufrieden: Es hat etwas von ausgleichender Gerechtigkeit, dass die rote Laterne im selben Jahr auftaucht, in dem auch (nach offiziellen Berichten) das Gelbe Trikot seinen Einstand gibt.
Damit war das »Wann« mehr oder weniger eingegrenzt. Viel interessanter aber ist das »Warum«. Nach allgemeiner Auffassung wurde die Vorstellung einer lanterne rouge von der Eisenbahn übernommen, bei der am letzten Waggon früher eine rote Laterne hing. Sie sollte Bahnwärtern versichern, dass sich unterwegs keine Waggons gelöst hatten und die Strecke hinter dem Zug frei war: Der Bremswagen mit dem schaukelnden roten Licht war wirklich der letzte Waggon. Eisenbahn- und Autoexperten auf beiden Seiten des Atlantiks haben diese Praxis bestätigt. Offensichtlich war es eine international übliche Vorgehensweise, deren Farbsystem dann auf andere Transportmedien übertragen wurde. Man möchte glauben, dass der Radsport seine Gebräuche eher aus dem Automobilbereich entlehnt hätte, doch angesichts der Entfernungen und Geschwindigkeiten und der Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen mit anderen Objekten (kein Ausweichen möglich!) war die Eisenbahn das erste Transportmittel, bei dem es nötig wurde, allgemeingültige Konventionen einzuführen. Außerdem wurde eine Beleuchtung bei Automobilen erst lange nach dem Ersten Weltkrieg verbindlich vorgeschrieben. Für den Ford T, der seit 1908 gebaut wurde, gab es zwar Öllampen am Heck, allerdings wurden sie erst um 1915 eingeführt. Rot war dank der Eisenbahn lange Zeit die übliche Farbe für die Rücklichter von Autos, allerdings wurde diese Konvention erst mit dem Wiener Übereinkommen für den Straßenverkehr im Jahre 1949 gesetzlich vorgeschrieben.
Rot signalisiert: Halt, nicht anfassen! Das ist ein Beispiel für Aposematismus – eine Warnfärbung, die Gefahr signalisiert, im Grunde genommen das Gegenteil einer Tarnfarbe. Rot hat die größte Wellenlänge im Spektrum des sichtbaren Lichts, weshalb es von Teilchen in der Luft weniger gestreut wird und sich bei Nebel auch auf größere Entfernungen besser ausmachen lässt. Diese Farbe ist schon immer verwendet worden, um Gefahr zu signalisieren. Beispiele dafür sind etwa der Rotschulterstärling, der sein Gefieder zeigt, um Angreifer abzuschrecken, die Korallenschlange und der Pfeilgiftfrosch. Das französische Standardwörterbuch Dictionnaire Le Robert definiert eine lanterne rouge als die Lampe am letzten Fahrzeug eines Konvois. Die Eisenbahn wird nicht ausdrücklich erwähnt, aber Güterzüge