Lanterne Rouge. Max Leonard
Tour de France wird in gleichem Maße durch das groß gemacht, was sie ausschließt, wie durch das, was sie fördert. Ihre Ablehnung ist etwas Erhabenes.
Antoine Blondin
Wenn Sie dem gewundenen Verlauf der Seine von Paris aus westwärts in Richtung Ville-d'Avray folgen, dem letzten Kontrollpunkt der ersten Tour de France, gelangen gleich hinter dem verstopften Périphérique – der Umgehungsstraße – nach Issy-les-Moulineaux. Das begrünte Stadtgebiet wirkt recht anonym. Menschen eilen mit der Straßenbahn und auf den stark befahrenen Straßen von einem Ort zum anderen. Es ist die Art von Stadt, die moderne Unternehmensgebäude aufweist, aber keine traditionellen Cafés, in denen man einen expresso trinken könnte – die obskure französische Verballhornung von Espresso, bei der das »ex« anzudeuten scheint, dass es sich um »ehemaligen Kaffee« handelt. Die Straßen sind außerdem vollgepfropft mit der Art von Stadtmöblierung, die Jean-François Pescheux wahnsinnig machen würde.
Als technischer Leiter war Pescheux zwischen 2005 und 2013 dafür verantwortlich, dass die Tour an jedem Tag, in jeder Woche und in jedem Jahr reibungslos ablief. Er trug dafür Sorge, dass sich jede Geschichte und jedes Drama frei entfalten konnte, ungehindert von Gefahren durch Hilfsfahrzeuge des Rennens, Medien, Zuschauer, Kies, und desorientierende Regenschauer sowie von Bodenwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung, Schikanen und anderen verkehrsberuhigenden Maßnahmen, die sich in und um französische Städte in dem gleichen deprimierenden Maße anhäufen wie reifenschädigender Straßenschmutz auf einem nassen Fahrradreifen. Der Société du Tour trat Pescheux 1982 bei und arbeitete sich unter den Rennleitern Jacques Goddet, Félix Lévitan, Jean-Marie Leblanc und Christian Prudhomme nach oben. Davor war er selbst Radrennfahrer. Dreimal hatte er an der Tour de France teilgenommen, und zweimal gewann er bei den französischen Nationalmeisterschaften einen Platz auf dem Siegertreppchen für die Einzelwertung im Sprint.
In den Anfangstagen wurde die Tour vom Büro von L'Auto in der Rue du Faubourg-Montmartre im Zentrum von Paris aus organisiert. Inzwischen sitzen L'Équipe, die Nachfolgezeitschrift, und die ASO, die das Rennen organisiert, in den südwestlichen Vororten. In den ASO-Büros – gleich neben denen von Sodexo, einem der größten internationalen Konzerne von Frankreich – wartete Monsieur Pescheux auf mich, um mit mir über die lanterne rouge zu sprechen. Bevor ich mich mit ihm traf, wollte ich meine Notizen durchgehen – vielleicht bei einem expresso –, aber ich fand keine Gelegenheit zum Einkehren.
Das Interview versprach interessant zu werden. Erstens hatte Pescheux den Ruf eines Mannes der Praxis, der unverblümt redete. Wenn Sie das Wort »streitsüchtig« in einem Bildwörterbuch nachschlagen, werden Sie wahrscheinlich ein Foto von ihm sehen. Mit seinen 61 Jahren sah er nicht so aus, als würde er sich auf sein Fahrrad schwingen, aber er hatte immer noch etwas von dieser Ellbogen-bei-70-km/h-Haltung, die manche Sprinter aufweisen. Er strahlte die Drohung aus, Sie mit einem Blick zermalmen zu können, wenn Sie es wagen sollten, ihm nach der flamme rouge in den Weg zu treten oder den reibungslosen Ablauf seines Rennens zu gefährden. Als Rennleiter hatte er für Jacques Goddet gearbeitet, den Sohn des Tourbegründers, der in den 20er und 30er Jahren mit Henri Desgrange zusammengearbeitet hatte. Das stellt eine ununterbrochene Linie dar, die über nur zwei Generationen bis zur Geburt des Radrennsports zurückreicht, zu Rädern ohne Schaltung und 460-km-Etappen, wollenen Trikots und flachen Mützen, Brandy und Kokain.
Zweitens interessierte es mich natürlich, was die lanterne rouge für die ASO bedeutete. Diese ehrwürdige Organisation stellt jedes Jahr ein Rennen auf die Beine, dessen wichtigste Frage lautet, wer in der kürzestmöglichen Zeit ins Ziel kommen kann. Ja, es gibt auch noch andere Preise, aber alle werden für herausragende Leistungen ausgeschrieben, z. B. für möglichst schnelles Bergauffahren oder für einen möglichst schnellen Sprint zur Ziellinie. Für Kritiker ist die Ehrung der lanterne rouge bestenfalls unseriös und schlimmstenfalls ein Widerspruch zum Sinn und Zweck des Rennens. Lenkt Sie die Aufmerksamkeit nicht von dem wahren Ziel ab, nämlich zu gewinnen? Wird dadurch nicht das Versagen gefeiert? Und was ist, wenn einige Teilnehmer in einem Wettbewerb der Versager alles daran setzen, um Letzter zu werden? (Was übrigens tatsächlich geschehen ist, wie wir noch sehen werden.)
Man muss nicht lange suchen, um negative Stimmen über die lanterne rouge zu hören. »Das bringt gar nichts für das Rennen«, sagte Jean-Marie Leblanc, Tourdirektor von 1989 bis 2005, zu dem Journalisten James Raia, »es gehört heute zu den Überlieferungen der Tour der France, aber es existiert weder offiziell noch inoffiziell.« Das ist nicht nur eine ablehnende, sondern auch eine fruchtlose Haltung, denn schließlich wird die Ehrung der lanterne rouge durch die Fans am Leben erhalten und unterliegt daher nicht seiner Kontrolle. Roger Legeay, ehemals Fahrer und angesehener DS – directeur sportif –, jetzt Vorsitzender des Mouvement Pour un Cyclisme Crédible (»Bewegung für glaubwürdigen Radsport«), äußerte sich in der Zeitschrift Procycling gegenüber der Journalistin Sadhbh O'Shea zurückhaltender: »Das ist nicht die Philosophie des Sports. Das Prinzip des Sports besteht darin, sein Bestes zu geben und nicht der Letzte zu sein. Für mich war das nie ein Ziel. Ich wollte mein Bestes tun.«
Die directeurs sportifs schätzen zwar manchmal die Publicity, die die lanterne rouge mit sich bringt, können aber auch sehr ablehnend sein. Marc Madiot, DS von La Française des Jeux, gehört zu denen, die definitiv dagegen sind. Wim Vansevenant (lanterne rouge von 2006 bis 2008) hat mir erzählt, dass er gehört hat, wie Madiot einen Fahrer für seinen letzten Platz in der Gesamtwertung gescholten hat. Auch Graeme Fife berichtet von einer wahren Gardinenpredigt, die Madiot einmal einem Fahrer gehalten hat: »Letzter in der Tour de France? Das ist beschämend! Eine Schande! Ich mag keine lanternes rouges!« Die Fahrer selbst tragen den Titel zwar mit Würde, wenn sie ihn erhalten, versuchen das Thema aber so weit wie möglich zu vermeiden. »Ich denke nicht daran«, sagte Gianluca Bortolami, der auf einzelnen Etappen eine recht ordentliche, wenn nicht gar brillante Leistung zeigte, »es sind immer eine Menge Jungs hinter mir.«
Bei anderen Rennen wird die Tradition, den letzten Platz zu ehren, stärker akzeptiert. Bei der zweiten Auflage der Vuelta a España trug der Letztplatzierte ein rotes Trikot. »Der letzte Platz in einem Rennen wie diesem ist keine Schande«, erklärte die Jury. Falls Sie es nicht gewusst haben sollten: Bei der modernen Spanien-Rundfahrt ist Rot ist die Farbe des Führungstrikots (bei der zweiten Auflage im Jahr 1936 trug der führende Fahrer orange); das ursprüngliche rote Trikot schien nur in diesem einen Jahr vergeben worden zu sein. 1937 sorgte der Spanische Bürgerkrieg für eine vierjährige Zwangspause des Rennens, und es gibt kein Anzeichen dafür, dass das rote Verlierertrikot diese Unterbrechung überlebt hätte. Daher war Ramón Ruiz der einzige Fahrer, der es jemals trug. In Italien dagegen wurde das Trikot für den Letztplatzierten beim Giro einige Jahre lang vergeben. Zwischen 1946 und 1951 wurde die maglia nera, das Schwarze Trikot, täglich dem letzten Mann des Rennens übergeben. Stellen Sie sich vor, wie bedrückend das gewesen sein muss! Da es laut Gazzetta dello Sport einen erheblichen Geldpreis für den Träger der maglia nera am Ende des Rennens zu gewinnen gab, war dieser Preis hart umkämpft. 1946 und 1947 teilten sich Gino Bartali und Fausto Coppi die maglia rosa, während Luigi Malabrocca das Schwarze Trikot ganz für sich allein hatte. Angeblich versteckte er sich sogar in Scheunen und Kellern und stach seine eigenen Reifen an, um das zu erreichen. 1949 war Malabrocca so stark von seinem Erfolg überzeugt, dass er in dem Glauben, noch vor der letzten Etappe gewonnen zu haben, seinen Hauptkonkurrenten Sante Carollo beim Sturm auf das Ziel in Monza nicht mehr beachtete. Er war der Meinung, dass die Zeitnehmer zu sehr damit beschäftigt waren, Coppi zum dritten Mal zum König des Giro zu krönen, und sich nicht mehr um den gruppetto kümmerten (die italienische Bezeichnung für die Fahrer in der Gruppe der Nachzügler) und ihnen allen die gleiche Abschlusszeit geben würden. Damit lag er falsch: Carollo schaffte es, Zeit zu verlieren, sodass ihm zu Recht das Schwarze Trikot verliehen wurde, was Malabrocca darum brachte, seinen historischen dritten Sieg zu erringen. Der berühmteste Gewinner der maglia nera war zugleich auch der letzte. Giovanni Pinarello war der letzte Empfänger, bevor der Brauch beendet wurde. Er fuhr eigentlich für Bottechia, aber das Team wollte für den aufstrebenden Star Pasqualino Fornara Platz machen. Daher wurden ihm 1952 100.000 Lire – etwa sechs Monatslöhne – angeboten, wenn er seinen Platz beim Giro in diesem Jahr aufgab. Das Geld investierte er in seine junge Fahrradbaufirma in Treviso, in die er vielleicht auch ein Gutteil seines Preisgelds für den Letztplatzierten hineinsteckte. Seine geschäftlichen Talente