Die Service-Public-Revolution. Beat Ringger
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur
mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
© 2020 Rotpunktverlag, Zürich
eISBN 978-3-85869-896-4
1. Auflage 2020
Vorwort So kann es nicht weitergehen
Teil I Fassungslosigkeit. Und Hoffnung
Umweltschock, Klimaschock: Katastrophen mit Ansage
Obszöne Ungleichheiten, wegretuschiert
Ist der Mensch ein egoistisches Monster?
Trumputinismus – die nationalistische Sackgasse
Teil III Der Allgemeinheit dienen, nichts anderem: Die Service-public-Revolution
Tun, was den Menschen dient, unterlassen, was ihnen schadet
Rückverteilen, Rückverteilen, Rückverteilen
Schluss Die globale Care-Gesellschaft
Der Ausbruch der Corona-Krise ist ein Ereignis, das uns nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. In der Schweiz wird sich insbesondere das Wochenende vom Freitag, 13. März, bis Montag, 16. März 2020, ins Gedächtnis einprägen. Zu diesem Zeitpunkt ist das öffentliche Leben hier und da bereits eingeschränkt, erste Großveranstaltungen sind abgesagt; an diesem Wochenende jedoch verändert sich die Einschätzung der Lage praktisch im Stundentakt. Am Freitagnachmittag schließt die Regierung die Schulen, verbietet Veranstaltungen mit über 100 Personen, begrenzt die Anzahl Gäste in Restaurants und Bars auf 50 und beschränkt die Einreise aus Italien, wo Mitte März bereits sehr hohe Infektions- und Todeszahlen zu beklagen sind. Gleichzeitig stellt sie zehn Milliarden Franken für die wirtschaftliche Unterstützung bereit – ein Betrag, der sich binnen wenigen Tagen vervielfachen wird. Drei Tage später ruft der Bundesrat die »außerordentliche Lage« aus. Restaurants, Bars, Freizeitbetriebe werden sofort geschlossen, auch die Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Österreich gehen zu. Vorsorglich bewilligt der Bundesrat ein Aufgebot von bis zu 8000 Soldat*innen zur Unterstützung der zivilen Bevölkerung – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Zum ersten Mal in der Geschichte bricht das Parlament eine laufende Session ab. Die Medienkonferenzen des Bundesrats werden allein auf YouTube am Freitag und Montag von rund 450’000 Menschen verfolgt. Fast 650’000 Leute sehen sie an den Fernsehgeräten zu Hause. Die SRF-Tagesschau vom Sonntagabend erreicht allein in der Deutschschweiz 1,5 Millionen Menschen oder sieben von zehn Fernsehzuschauer*innen. Zum Vergleich: Die erste Pressekonferenz des Bundesrats in Sachen Covid-19-Pandemie vom 26. Februar wurde im Netz gerade mal 40’000-mal angeklickt.
Schnell wirft die Krise ihr Licht auf die groteske Ungleichheit in der Welt. Länder mit schwachem Gesundheitssystem sehen sich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, etwa weitgehende Ausgehverbote. Ende März stehen beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik mit ihren gut fünf Millionen Einwohner*innen ganze drei (!) Beatmungsgeräte zur Verfügung. In vielen Ländern haben die Regierungsmaßnahmen zur Folge, dass Millionen Menschen unmittelbar in existenzielle Nöte geraten: indische Wanderarbeiter*innen genauso wie südafrikanische Hausangestellte oder amerikanische Arbeitslose ohne Krankenversicherung. Sie alle werden nicht mehr nur vom Virus bedroht, sondern ebenso vom Kollaps des wirtschaftlichen Lebens.
Im Süden Europas zeigen sich die Folgen der langjährigen Austeritätspolitik. Um die Finanzmärkte zu stützen und den Zusammenbruch weiterer Bereiche der Wirtschaft zu verhindern, verschuldeten sich die Staaten 2007/08 stark. Die anschließenden »Hilfspakete« der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds zur Rettung der Banken waren an harte Kürzungsvorgaben gebunden. Allein Italien hat in den vergangenen zehn Jahren 37 Milliarden Euro im Gesundheitswesen eingespart, davon 25 Milliarden während der Laufzeit der IWF-Kredite. 359 Spitäler wurden landesweit geschlossen und 70’000 Betten abgebaut.1 Kaum besser erging es Spanien: Noch im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 1. März 2020, also kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, gingen im Gesundheitssektor 18’320 Arbeitsplätze verloren.2
Doch allen Widrigkeiten zum Trotz blitzt in der Corona-Krise auch Hoffnung auf, entstehen Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft. Weltweit bringen Regierungen in Rekordzeit die größten wirtschaftlichen Stützpakete der Geschichte auf die Beine. Die Menschen reagieren mit großer Hilfsbereitschaft. In den Nachbarschaften und Quartieren entstehen solidarische Netzwerke. Allein auf der Corona-Unterstützungsplattform hilf-jetzt.ch haben sich in den ersten Wochen der Pandemie über 100’000 Personen in etwas mehr als 1000 lokalen Gruppen organisiert. Die Krise straft alle Lügen, die kollektives Handeln, positive Opferbereitschaft, Empathie und Solidarität für längst tot erklärt haben. Gleichzeitig muss die konsternierte Weltöffentlichkeit die oft grotesken Pirouetten der vermeintlich starken Männer – von Trump bis Putin, von Johnson bis Bolsonaro – mit ansehen. Was diese nationalistischen Zampanos anzubieten haben, sind sozialdarwinistische Experimente, manipulierte Statistiken und die national-egoistische Sabotage der internationalen Bemühungen um Solidarität.
Der Nationalismus führt uns in die Sackgasse. Wir brauchen eine andere Weltpolitik. Die Kooperation der gesamten Menschheit ist ultimativ gefordert. Dabei müssen wir anerkennen, dass es eine Zukunft nur gibt, wenn sie das gute Leben für alle einschließt