Die Service-Public-Revolution. Beat Ringger

Die Service-Public-Revolution - Beat Ringger


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um die Klimaerhitzung kennen: Die Fakten werden verschleiert, die Statistiken geschönt. Bücher erscheinen, wie etwa Factfullness des schwedischen Professors Hans Rosling. Der Tenor lautet: »Die Welt wird immer besser.«6 Der Eindruck, die Probleme würden zunehmen, könne nur entstehen, weil die Medien sich auf eine negative Berichterstattung festgelegt hätten – und wegen der Linken, die ihre Existenzberechtigung aus den Problemen ziehe und nicht aus den Lösungen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht uns nicht darum, zu leugnen, dass sich die Potenziale der Menschheit ganz erheblich weiterentwickelt haben. Im Gegenteil: Es ist gerade die wachsende Diskrepanz zwischen diesen Potenzialen und der (Un-)Art, wie sie genutzt werden, die uns umtreibt. Worum es uns an dieser Stelle vielmehr geht, ist, aufzudecken, was alles unternommen wird, um die Probleme zu verschleiern.

      Nimmt man beispielsweise für die Bemessung von Hunger die Definition, wonach eine Person erst dann als unterernährt gilt, wenn ihre Kalorienzufuhr nicht ausreicht, um den Mindestbedarf für einen sitzenden Lebensstil abzudecken (und zwar über den Zeitraum von über einem Jahr), dann liegt die weltweite Zahl der hungernden Menschen bei rund 800 Millionen. So rechnen die zuständigen Gremien der UNO. Nur: Wie absurd ist es denn, den Ärmsten der Welt einen »sitzenden Lebensstil« zu unterstellen, der mit 1600 bis 1800 Kalorien pro Tag gut zu bewältigen wäre? Nichts ist weniger »sitzend« als der Alltag einer sudanesischen Bäuerin oder eines indischen Rikscha-Fahrers. Ihr Bedarf liegt in der Größenordnung von 2500 bis 3000 Kalorien pro Tag. Stellt man überdies in Rechnung, dass es nicht nur um Kalorien geht, sondern auch um lebenswichtige Vitamine und Mineralstoffe, dann steigt die Zahl der unter- und mangelernährten Menschen auf 1,5 bis 2,5 Milliarden. Und ihre Zahl nimmt zu. Beispiel Indien: 2011 mussten 75 Prozent der Bevölkerung mit weniger als 2100 Kalorien pro Tag auskommen – 1958 waren es erst 58 Prozent.

      Ein anderes Beispiel sind die Armutsgrenzen. Rosling und seine Mitstreiter wie die US-Amerikaner Steven Pinker und Bill Gates argumentieren gern mit einer globalen, »absoluten« Armutsgrenze (der International Poverty Line, IPL) bei einem täglichen Einkommen von 1,90 US-Dollar pro Person. Diese Größe stammt ursprünglich aus Berechnungen der Weltbank, die inzwischen zwar einige der Kritikpunkte anerkennt, aber weiter an der IPL festhält. Sie hat dafür ihre eigenen Statistiken um die Grenzen von 3,20 oder 5,50 US-Dollar erweitert. Auch das ist allerdings weiterhin sehr tief. In verschiedenen Studien wird für eine Armutsgrenze von 7,40, 10 oder sogar 15 US-Dollar plädiert. Die Grenze von 7,40 US-Dollar zum Beispiel wird oft auch »ethische Armutsgrenze« genannt, weil das ungefähr das Einkommen ist, über das Menschen verfügen müssten, um mindestens eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwas über 70 Jahren zu erreichen. Nimmt man die 7,40 US-Dollar als Grundlage, liegt die Zahl der Menschen in Armut heute bei gut 4,2 Milliarden Menschen und damit viermal höher als bei einer Grenze von 1,90 US-Dollar. Übrigens gehen fast die gesamten Erfolge der weltweiten Reduktion von Armut auf das Konto von China. Nimmt man China aus der Rechnung, sind die Zahlen noch eindeutiger. Im Rest der Welt ist bei einer Grenze von 7,40 US-Dollar seit 1981 auch der relative Anteil der Armut angestiegen, auf heute fast 70 Prozent.7 Inzwischen hat die Debatte über die »richtigen« Armutszahlen die UN-Gremien erreicht. Am 2. Juli 2020 reichte der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, der Australier Philip Alston, seinen Bericht unter dem Titel »The parlous state of poverty eradication« (Der desolate Zustand der Armutsbekämpfung) beim Menschenrechtsrat ein. Sein Fazit: »Wir sind weit davon entfernt, die extreme Armut zu beenden. Die IPL ist bewusst so gestaltet, dass sie von einem unglaublich tiefen Lebensstandard ausgeht, der sehr weit unter jeder vernünftigen Annahme für ein würdiges Lebens ausgeht […]. Wenn es darum geht, den Erfolg der Armutsbekämpfung zu messen, sollte die internationale Gemeinschaft damit aufhören, sich hinter einer Armutsgrenze zu verstecken, die von einem Standard einer elenden Existenz ausgeht.«8

      Die globalen Wohlstandsdiskrepanzen sind unerträglich hoch. Ohne gezielte Gegenmaßnahmen werden sie sich in der Corona-Krise nochmals verschärfen. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme, WFP) rechnet mit einer Verdoppelung der Hungernden in diesem Jahr, wenn die Staatenwelt keine energischen Gegenmaßnahmen ergreift. Das alles lässt sich nur erklären, weil die Mächtigen dieser Welt sich auf einem strategischen Rückzug aus der Weltgemeinschaft befinden. Sie entledigen sich der Verantwortung nicht nur statistisch, sondern ganz konkret. Am augenfälligsten ist dies im Bereich der Steuern. Unter dem Druck des politisch gewollten Steuersenkungswettlaufs werden die Steuersätze sowohl für Gewinne wie auch für hohe Einkommen von fast allen Regierungen seit vielen Jahren kontinuierlich gesenkt. Im gleichen Zug erodieren die Steuersubstrate, also die Berechnungsgrundlagen für die Steuern. Es werden immer mehr Schlupflöcher geschaffen, dank derer der steuerbare Anteil an Gewinnen und Einkommen reduziert werden kann. Es werden also immer weniger Steuern auf immer kleineren Gewinn- und Einkommensanteilen erhoben. Dazu dienen auch die sogenannten Steueroasen, die richtigerweise als Steuerwüsten bezeichnet werden müssen. Schätzungen zufolge »parkieren« die multinationalen Konzerne 40 Prozent ihrer Gewinne in Staaten mit extrem tiefen Steuersätzen und/oder sehr löchriger Steuergesetzgebung. Jährlich werden so gegen 600 Milliarden Euro an Konzerngewinnen aus den eigentlichen Anspruchsländern verschoben – meist nach Irland, der Karibik, Luxemburg, Belgien, Malta, Zypern, Singapur, Holland und in die Schweiz. Die EU verliert so etwa ein Fünftel ihrer Einnahmen aus Unternehmenssteuern. Die Schweiz nimmt in diesem »Wettlauf nach unten« eine führende Rolle ein. Die deutsche Bertelsmann Stiftung hat in einer kürzlich veröffentlichten Studie ermittelt, welche Länder dank sogenannter negativer Spill-over-Effekte ihren Wohlstand am stärksten auf Kosten anderer Länder erzielen. An erster Stelle aller Länder: die Schweiz.

      Der Rückzug des Weltbürgertums aus jeder Verantwortung spiegelt sich auch in einer großen moralischen und politischen Leere. Wenn die herrschenden Klassen überhaupt noch Zukunftsvorstellungen entwickeln, dann drehen diese sich um technokratische Fantastereien, wie sie etwa Google und Elon Musk vorantreiben. Kommerzielle Weltraumflüge sollen das große nächste Ding sein – das Klima freut sich. Anarchokapitalist*innen wie Peter Thiel träumen von unabhängigen Staaten für Superreiche auf künstlichen Inseln, in denen alles erlaubt ist und niemand Steuern bezahlt. Gleichzeitig baut sich manch ein Superreicher dieser Erde angesichts der drohenden Klimakatastrophen im fernen Neuseeland eine bunkerartige Behausung und hofft, so dereinst den Konsequenzen der herrschenden Politik entfliehen zu können.

      Andere haben weniger Möglichkeiten, den globalen Verheerungen zu entkommen. Die Zahl der Geflüchteten hat mitten in der Pandemie einen neuen Allzeit-Rekordwert erreicht. 80 Millionen Menschen sind inzwischen weltweit auf der Flucht. Das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Zwischen 2014 und 2019 sind 36’500 Menschen auf der Flucht gestorben, die meisten davon bei der Überquerung des Mittelmeers Richtung Europa.

      Im Jahr 2013 lief in den Kinos der Science-Fiction-Film Elysium mit dem US-Schauspieler Matt Damon in der Hauptrolle des Max Da Costa. Da Costa lebt im Jahr 2154 auf einer unwirtlich gewordenen Erde. Der Planet ist überhitzt, ohne saubere Luft und ohne sauberes Wasser. Die Menschen leben freudlos und ohne Perspektiven. Die Erde dient einer verschwindend kleinen Minderheit von Superreichen als Rohstofflager und Fabrikhalle. Diese herrschende Elite hat sich auf die gigantische Luxusraumstation Elysium zurückgezogen, die die Erde in sicherer Distanz umkreist. Im Film versucht Da Costa, ein schwer krankes Kind nach Elysium zu schmuggeln, weil nur dort die nötigen Einrichtungen zu seiner Heilung verfügbar sind. Der Versuch gelingt, aber Da Costa verliert dabei sein Leben. Der Regisseur des Films, Neill Blomkamp, sagte in einem Interview zur Frage nach dem Genre des Films: »Elysium isn’t science fiction. It’s now.«

       IST DER MENSCH EIN EGOISTISCHES MONSTER?

      Es scheint eine Art ehernes Gesetz der Geschichte zu sein, dass die jeweils Herrschenden sich größte Mühe geben, ihre Weltordnung als unveränderbar darzustellen. Die Demokratie galt noch vor hundert Jahren als eine Staatsform, die zur Herrschaft des Pöbels, zu Anarchie und zum Zerfall der Zivilisation führe. Könige und Adlige betrachteten ihr Regiment als von Gott gegeben, Widerstand war das Werk des Teufels. In gleicher Weise wird heute die sogenannte »freie Marktwirtschaft« als alternativlos gepriesen. Man will uns glauben machen, egoistische Nutzenmaximierung sei dank des Wirkens der unbestechlichen


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