Die Service-Public-Revolution. Beat Ringger

Die Service-Public-Revolution - Beat Ringger


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vor, der zwar in der Schweiz ansetzt, aber über sie hinausweist und Spielräume für eine positive Rolle unseres Landes in der Welt öffnet. Ein Vorschlag, der sowohl revolutionär als auch pragmatisch ist. Die Service-public-Revolution knüpft an die starke Tradition und an eine lebendige Kultur der kommunalen Selbstverwaltung an. Ebenso schafft sie die Verbindung zu den neuen Bewegungen der Klimajugend und des Feminismus, zu zivilgesellschaftlichen Initiativen und zum Engagement von NGOs. Die Service-public-Revolution soll dabei konsequent internationalistisch sein. Das ist kein kleiner Anspruch, und das ist uns bewusst. Aber für Bescheidenheit bleibt uns keine Zeit mehr. Ob Klima, Corona oder die immensen sozialen Ungleichheiten: Der Zustand der Welt verlangt entschiedenes Anpacken und nicht Zaudern und Zögern.

      Den Service public ins Zentrum zu stellen, bedeutet, den Bereich unserer Gesellschaft auszubauen, der nicht der Logik der Konkurrenz und der Gewinnorientierung unterworfen ist. Das bedingt zuerst eine Stärkung der bestehenden öffentlichen Dienste im Inland, von den Infrastrukturen bis hin zur Gesundheitsversorgung. Es bedeutet gleichzeitig, Verantwortung zu übernehmen für den Ausbau eines »Global Public Service«, eines GPS – jedoch nicht für Handy-Apps, sondern für eine globale Care-Gesellschaft. Statt der systematischen Demontage der UN-Institutionen der letzten Jahrzehnte fordern wir einen Ausbau und einen neuen Aufbruch. Angesichts der Corona-Krise stehen die Weltgesundheitspolitik und eine massive Stärkung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Brennpunkt. Dafür muss die Schweiz hier und heute einstehen, zum Beispiel, indem sie ihre Finanzbeiträge an die WHO massiv erhöht. Zum Beispiel, indem sie in weltweiter Kooperation mit allen interessierten Partner*innen eine globale »Pharma fürs Volk« aufbaut, einen öffentlichen Pharma-Cluster, der dringend benötigte, von den privaten Pharmakonzernen seit Jahren vernachlässigte Medikamente entwickelt, produziert und zum Selbstkostenpreis für die ganze Welt bereitstellt. Wir kommen in Teil III dieses Buchs darauf zurück.

      Zunächst jedoch schildern wir in Teil I unsere Beweggründe, dieses Buch gerade jetzt zu schreiben. Da ist einerseits die Hoffnung, die gerade in Zeiten von Krisen wie der Covid-19-Pandemie davon genährt wird, dass Menschen sich viel solidarischer zeigen, als dies gemeinhin unterstellt wird. Und da ist andererseits die Fassungslosigkeit darüber, wie die herrschenden Klassen genau diese Solidarität immer wieder ersticken. Im 20. Jahrhundert war Hoffnung auf Aufbruch, als die Weltgemeinschaft nach der Katastrophenerfahrung von Faschismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg innert kürzester Zeit in Form der UNO und mit Völker- und Menschenrechten ein eindrückliches Rahmenwerk geschaffen hat. Und da ist Fassungslosigkeit darüber, wie dieses Rahmenwerk insbesondere seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 dem Zerfall preisgegeben wird. Da war Hoffnung und Aufbruch, als sich die Menschheit in den 1980er Jahren das Ausmaß und die Dringlichkeit der Umweltverschmutzung und der Klimaerwärmung vergegenwärtigte und entschiedenes Handeln anschob. Da ist Fassungslosigkeit darüber, wie mächtige Konzerne und Regierungen diesen Elan ins Leere haben laufen lassen und alles daransetzten, die Glaubwürdigkeit der Klimawissenschaften zu diskreditieren, statt der Klimaerhitzung Einhalt zu gebieten. So darf es nicht weitergehen. Diesmal darf der Aufbruch der neuen Klimabewegung, der feministischen Bewegung, der weltweiten Demokratiebewegungen, der Black-Lives-Matter-Bewegung nicht wieder verpuffen.

      In Teil II mit dem Titel »Kapitalismus und Care« gehen wir in vier Unterkapiteln zu den Stichworten Ungleichheit, Kapitalismus, Care und wirtschaftliche Messgrößen auf Zusammenhänge ein, die uns zentral scheinen für das Verständnis unseres Vorschlags. Teil III legt schließlich im Detail dar, was wir unter der Service-public-Revolution verstehen. In diesem Teil wollen wir verständlich machen, wie – ausgehend von dem, was an öffentlichen Diensten heute besteht – neue Horizonte erschlossen und die Verhältnisse in unserer Gesellschaft dauerhaft umgebaut werden können: nachhaltig, kooperativ, gendergerecht und solidarisch.

      Dieses Buch ist in der kurzen Zeit von Anfang Mai bis Anfang Juli 2020 entstanden. Es fußt auf Überlegungen, die wir – teilweise unabhängig voneinander, teilweise bereits in früheren Kontakten – entwickelt haben, je auch im regen Austausch mit unseren jeweiligen Netzwerken. Was wir hier vorlegen, ist kein umfassendes politisches Programm. Aber wir sind überzeugt, dass wir einen Schwerpunkt setzen, der gerade jetzt exakt passt. Die Service-public-Revolution ist lange noch nicht alles. Aber ohne Service-public-Revolution ist alles nichts.

      Es würde uns freuen, wenn unser Vorschlag Widerrede und breite Debatten auslöst. Wir laden alle Leser*innen ein, an dieser Debatte teilzunehmen, unter anderem auf www.service-public-revolution.ch. Auf dieser Site werden wir unsere Ideen weiterentwickeln, weiter gehende Informationen zur Verfügung stellen und Raum bieten für die Diskussion.

      Bücher sind immer eine Weiterentwicklung all dessen, was andere schon geschrieben und gesagt haben. Wir schätzen uns glücklich, dass wir so vielfältige Anleihen bei vielen Autor*innen machen können. Unter den jeweiligen Abschnitten in den Teilen II und III führen wir unter »Weiterlesen« Literatur an, aus der wir viele unserer Anregungen geschöpft haben und die sich zur Vertiefung eignet. Im Interesse der Lesbarkeit verzichten wir auf Detailnachweise, sofern die entsprechenden Informationen rasch und öffentlich zugänglich verifiziert werden können (mittels einer kurzen Recherche im Internet). Wenn wir zitieren, geben wir die Quelle an.

      Zum Gelingen dieses Buchs haben viele Menschen auch ganz konkret beigetragen. Wir danken (in alphabetischer Reihenfolge): Andres Frick, Andreas von Gunten, Ruth Gurny, Pierre-Yves Maillard, Samira Marti, Mattea Meyer, Anja Pfenninger, Katharina Steinmann, Yann Wermuth und Pascal Zwicky herzlich für das kritische Gegenlesen und für ihre Kommentare und Hinweise. Und bei Hans Baumann und Andreas Rieger bedanken uns dafür, dass sie für dieses Buch neue Berechnungen beigesteuert haben.

      Ein großes Dankeschön gilt dem Rotpunktverlag, besonders Sarah Wendle und Mia Jenni, für die kritische und solidarische Begleitung. Und wir bedanken uns ganz speziell bei all jenen Freund*innen und Familienmitgliedern, die – einmal mehr – während der Arbeit an diesem Buch auf uns verzichten mussten.

      Wir befinden uns in einem Epochenbruch. Wir sind konfrontiert mit der Klimaerhitzung, mit krassen globalen Ungleichheiten und der Zunahme internationaler Spannungen, mit der Übersäuerung der Meere und dem Zerfall der Biodiversität, mit einer Krise der Grundwerte und mit einer Wirtschaft, auf der immense Schuldenberge lasten. Weil wir uns mitten in diesem Umbruch befinden, ergeht es uns wie einer Schiffsmannschaft im Sturm. Es ist schwierig vorauszusagen, wann der Höhepunkt des Unwetters erreicht sein wird, wie heftig diese oder jene Woge in Relation zur nächsten ist und wie groß die Schäden sein werden, die das Schiff davonträgt. Mit Sicherheit aber verleiht die Welle der Corona-Pandemie und die nun einsetzende Weltwirtschaftskrise dem Sturm neue Wucht.

      In diesem Buch versuchen wir, längere Zeiträume zu überblicken, um die gegenwärtigen Ereignisse besser einordnen zu können. Besonders interessiert uns der Zeitraum seit dem Ende der letzten umfassenden globalen Krise, die in die beiden Weltkriege von 1914–18 und 1939–45 mündete. Nach 1945 stand die Welt vor einem gigantischen Scherbenhaufen: 60 Millionen Kriegstote, zerrüttete Gesellschaften, das Trauma des Holocaust, ein ethisch-moralischer Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte. Damals rappelte sich die Welt neu auf und leistete einen Schwur: Niemals wieder Krieg. Und: Niemals darf es wieder so kommen, dass der Laissez-faire-Kapitalismus die Welt in einen solchen Strudel der Vernichtung reißt.

      In Rekordzeit gelang es, Meilensteine der internationalen Zusammenarbeit zu errichten. Im Juni 1945 gründeten sich die Vereinten Nationen mit dem zentralen Ziel, Konflikte ohne Gewalt bewältigen zu können. Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die UNO-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Innerhalb weniger Jahre wurden Dutzende von Organen (wie die UNICEF) und Sonderorganisationen


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