Der Hersteller im europäischen Produktsicherheitsrecht. Christian Piovano
Auf der Vertriebsstufe wird ferner die Quasi-Herstellereigenschaft konstituiert, indem auf ein Produkt die Handelsmarke, das Warenzeichen oder der Firmenname angebracht werden und es vertrieben wird (Fallgruppe 2 gem. § 2 Nr. 14 Hs. 2 lit. a) ProdSG). Der Unterschied zwischen den bereits dargestellten Fallgruppen besteht darin, dass das Produkt in diesem Fall nicht im Auftrag des (nunmehr) Quasi-Herstellers entwickelt oder produziert wurde. Sobald das Produkt in den Verkehr gebracht wurde, kann in einem weiteren Schritt des Produktlebenszyklus eine Herstellereigenschaft konstituiert werden. Dies ist dann der Fall, wenn ein Produkt durch einen Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit aufbereitet (Fallgruppe 3 gem. § 2 Nr. 14 Hs. 2 lit. b) Alt. 1 ProdSG) oder wesentlich beeinflusst wird (Fallgruppe 4 gem. § 2 Nr. 14 Hs. 2 lit. b) Alt. 2 ProdSG) oder wenn die Sicherheitseigenschaften eines Verbraucherprodukts beeinflusst wurden (Fallgruppe 5 gem. § 2 Nr. 14 Hs. 2 lit. b) Alt. 2 ProdSG) und das jeweilige Produkt erneut auf dem Markt bereitgestellt wird. Daran anschließend kann die Herstellereigenschaft an dem Produkt, auf das bereits eingewirkt wurde, wieder erneut durch eine Quasi-Herstellereigenschaft begründet werden oder durch eine erneute Einwirkung auf das Produkt und dessen Bereitstellung nach § 2 Nr. 14 Hs. 2 lit. b) Alt. 2 ProdSG oder § 2 Nr. 14 Hs. 2 lit. b) Alt. 2 ProdSG.
3. Problematik der Definition
Die vorangestellte Darstellung der verschiedenen Fallgruppen lässt bereits die Unzulänglichkeit des Herstellerbegriffs des ProdSG erkennen: Die verschiedenen Fallgruppen sind nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Ob ein Produkt durch den Produzenten im technischen Sinne selbst oder durch die Vorgaben eines Auftraggebers entwickelt wurde, lässt sich nicht einfach voneinander abgrenzen. Schließlich werden Produkte in einem arbeitsteiligen Arbeitsumfeld zumeist von verschiedenen Wirtschaftsteilnehmern gemeinsam entwickelt. Bei technischen Produkten, die ein Zulieferbetrieb entwickeln soll, arbeitet der Auftraggeber mit Pflichten- und Lastenheften, welche die wesentlichen Eigenschaften des Produkts vorgeben. Schon das Ausarbeiten des Pflichten- und Lastenheftes könnte bereits als die Entwicklung des Produkts anzusehen sein, sodass einerseits der tatsächliche Produzent des Produkts der Hersteller im Sinne des ProdSG sein könnte, andererseits aber auch der Verfasser des Pflichten- und Lastenheftes.
Neben der Abgrenzung der einzelnen Fallgruppen voneinander besteht eine weitere Problematik darin, dass die Handlungsmodalitäten der einzelnen Fallgruppen durch unscharfe Begriffe beschrieben werden. Dabei erzeugt insbesondere die Frage Schwierigkeiten, wann eine Einwirkung auf ein Produkt anzunehmen ist. Dies könnte bereits dann der Fall sein, wenn nur eine einfache Eigenschaft des Produkts verändert wird wie beim bloßen Umlackieren.
Werden die einzelnen Fertigungsschritte des Produktentstehungs- und Lebenszyklus innerhalb der Lieferkette betrachtet, wird die Unzulänglichkeit des Herstellerbegriffs noch deutlicher: Wird ein Produkt von Wirtschaftsteilnehmer A entwickelt, von Wirtschaftsteilnehmer B produziert, wobei beide Wirtschaftsteilnehmer ihren Namen auf dem Produkt anbringen, von Wirtschaftsteilnehmer C in den Verkehr gebracht und schließlich von Wirtschaftsteilnehmer D eine Erkennungsmarke angebracht und weitervertrieben, stellt sich die Frage nach dem verantwortlichen Hersteller im Sinne des ProdSG. Die Frage wird noch weiter verschärft, wenn im Anschluss an den originären Vertriebszyklus von Wirtschaftsteilnehmer E – zum Beispiel einem Recycler – Einwirkungen auf das Produkt vorgenommen werden.
Somit könnte dieses Produkt nach dem ProdSG mehrere Hersteller haben. Allerdings kann immer nur ein Wirtschaftsteilnehmer für ein Produkt der Hersteller im Sinne des ProdSG sein.38 Dass für ein Produkt mehrere Wirtschaftsteilnehmer als Hersteller im Sinne des ProdSG infrage kommen, ruft folglich eine erhebliche Rechtsunsicherheit und dementsprechend ein hohes Klarstellungsbedürfnis bei den Wirtschaftsteilnehmern und den Marktüberwachungsbehörden hervor, was nachfolgend verdeutlicht wird.39
37 § 2 Nr. 29 ProdSG nennt als Wirtschaftsakteure und damit als Verpflichtete im Sinne des § 27 Abs. 1 ProdSG sowie als Anordnungsadressaten die Hersteller, Bevollmächtigten, Einführer und Händler. 38 Bauer, Das Recht des technischen Produkts, S. 219. 39 Siehe dazu instruktiv Teil B. III.
III. Klarstellungsinteresse
Ein Klarstellungsinteresse, bezogen auf die Frage, welcher Wirtschaftsteilnehmer letztlich als Hersteller anzusehen ist, besteht sowohl aus Sicht der Unternehmen, die als Anordnungsadressat „Hersteller“ infrage kommen können, als auch aus Sicht der Marktüberwachungsbehörden. Aus Sicht des Herstellers, weil er die Pflichten des ProdSG erfüllen muss, sofern er als Adressat des ProdSG gilt. Aus Sicht der Marktüberwachungsbehörden, weil sie ihre Maßnahmen nur gegenüber den richtigen Adressaten rechtmäßig anordnen können.
1. Klarstellungsinteresse aus Unternehmersicht
Aus Unternehmersicht besteht daher ein Interesse an der Konkretisierung des Herstellerbegriffs, weil die Unternehmer im Innen- und Außenverhältnis dazu verpflichtet sind, die notwendigen Maßnahmen im Unternehmen einzuleiten, um die produktsicherheitsrechtlichen Pflichten zu erfüllen, die sich an die Herstellereigenschaft knüpfen. Ebenso sind sie verpflichtet, alle negativen Folgen von ihrem Unternehmen abzuwenden, die sich als Rechtsfolgen der Nichterfüllung der Pflichten ergeben könnten. Dafür muss der Wirtschaftsteilnehmer allerdings seine Rolle als Hersteller kennen. Denn nur, wenn dieses Wissen über die eigene Rolle vorhanden ist, wird der Unternehmer die richtigen Maßnahmen einleiten und negative Folgen wie vertriebsbeschränkende Maßnahmen seitens der Marktüberwachungsbehörden oder Schadensersatzansprüche anderer Wirtschaftsteilnehmer abwenden.
Zum besseren Verständnis werden im Folgenden die Verpflichtungen des Herstellers nach dem ProdSG dargestellt sowie die Rechtsfolgen, die eintreten, wenn der Unternehmer seine Pflichten nicht erfüllt.40 Ferner wird untersucht, aus welchen rechtlichen Verpflichtungen die Unternehmer im Innen- und Außenverhältnis dazu verpflichtet sind, die negativen Folgen zu verhindern, die aus der Nichterfüllung von Herstellerpflichten herrühren können. Die Pflicht zum Einhalten der produktsicherheitsrechtlichen Herstellerpflichten ergibt sich nicht nur aus dem ProdSG selbst, sondern auch aus der organisationsrechtlichen Pflicht, negative Folgen vom eigenen Unternehmen abzuwenden.41 Des Weiteren wird durch die Untersuchung der verschiedenen Herstellerpflichten herausgearbeitet, welche Anforderungen an einen Wirtschaftsteilnehmer zu stellen sind, damit dieser die Rolle des Herstellers im Sinne des ProdSG überhaupt erfüllen kann.42 Die Herstellerpflichten sind unzertrennlich mit der Herstellereigenschaft verknüpft. Im Rahmen der teleologischen Untersuchung des Herstellerbegriffs wird unter anderem von Bedeutung sein, welcher Wirtschaftsteilnehmer die Herstellerpflichten am effektivsten umsetzen kann.
a) Produktsicherheitsrechtliche Herstellerpflichten im Einzelnen
Bei den produktsicherheitsrechtlichen Herstellerpflichten im Sinne des ProdSG handelt es sich im Wesentlichen um produktbezogene, öffentlich-rechtliche Pflichten an die Hersteller. Dabei ist zwischen Herstellerpflichten vor und nach dem Inverkehrbringen zu unterscheiden.
aa) Pflichten vor dem Inverkehrbringen
Herstellerpflichten, die vor dem Inverkehrbringen eines Produkts ansetzen, betreffen insbesondere das Einhalten der Beschaffenheitsanforderungen für Produkte und Vorschriften über den Marktzugang. Grundsätzlich muss ein Produkt derart beschaffen sein, dass es bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nach § 3 ProdSG nicht gefährdet. Weitere Beschaffenheitsanforderungen ergeben sich aus Spezialgesetzen, EU-Richtlinien oder Verordnungen zum Produktsicherheitsgesetz. Beispielsweise muss ein Produkt, das vom Anwendungsbereich des EMVG (Gesetz über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln), das die europäische EMV-Richtlinie 2014/30/EU in deutsches Recht umsetzt, umfasst ist, nach § 4 EMVG unempfindlich gegen elektromagnetische Störungen