Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen. Sebastian Louven
bei den Nachfragern sinkt oder aber mit einer im Vergleich schlechteren Kostenstruktur für das jeweilige Unternehmen verbunden ist. Damit verbunden sind mögliche wirtschaftliche Nachteile für den Abgehängten. Diese können sich in einer Verdrängung von der vorherigen Position äußern, ebenso wie den vollständigen wirtschaftlichen Verlust der wettbewerblichen Stellung in einem bestimmten Segment. Dies kann zur Folge haben, dass sogar in der Wertung seiner Nachfrager vorher sehr hoch angesehene Produkte oder Leistungen nicht mehr nachgefragt werden. Die negativ-kompetitive Komponente der Innovation hängt also eng mit Pfadabhängigkeiten und ihrer Vermittlungsfunktion zusammen.286
Diese Verdrängung ist einerseits aufgrund einer für die verdrängten Unternehmen unvorhergesehenen Veränderung denkbar.287 Dem gegenüber stehen Szenarien, in denen sich Veränderungen lange im Voraus ankündigen oder sogar von den wirtschaftlich beteiligten Akteuren vorhersehbar sind, gar gefördert oder gesteuert werden. Jedoch kann auch hier eine Verdrängung erfolgen, weil Unternehmen sich aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sehen, sich an geänderte Umstände anzupassen.
3. Kategorische Abgrenzungen
Allgemeine Regeln im Sprachgebrauch können nicht nur für den Versuch einer sprachlichen Eingrenzung im Sinne einer positiven Begriffsdefinition herangezogen werden. Vielmehr bieten sich Untersuchungen im Hinblick auf die sprachlichen Ausdrücke Idee, Invention und Imitation an, die in ihrem Sprachgebrauch eine Nähe zur Innovation haben.288 Als Vorstufe menschlich veranlasster Schöpfungen stehen innere gedankliche Vorgänge.289 Diese können das Wissen über eine Veränderung oder Pläne über neue Handlungsoptionen beinhalten. Diese gedanklichen Vorgänge können zwar neu, fortschrittlich oder in sonstiger Weise kreativ sein. Solange sie nicht umgesetzt werden, fehlt es an einer Schöpfung. Der Begriff Invention beschreibt zwar im Allgemeinen eine schöpferische Tätigkeit im Sinne einer fortschrittlichen Veränderung, die nicht wettbewerblich nach außen adaptiert wird und dadurch wahrnehmbar ist.290 Ihr kommt keine nach außen gerichtete Wirkung zu.291 Schließlich lässt sich die Innovation über das kompetitive Element von der Imitation abgrenzen. Denn wo eine Schöpfung Fortschritt bedeutet, kann es Verfolgung geben, indem die Schöpfung bestmöglich nachgemacht wird. Innovation und Imitation sind Gegenbegriffe mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung, die sich erst durch diesen Bezug zueinander erschließt.292 Der Imitation fehlt es an dem Element der Neuheit. Sie ist dagegen stark von den kompetitiven Anreizen der Innovation getrieben, indem der Imitator durch sie die Vorsprünge des Innovators einzuholen versucht und sich gegen die eigene Verdrängung im Wettbewerb wehrt.293 In rechtlicher Hinsicht ergänzt werden kann das Kartellrecht in Bezug auf Innovationen in besonderer Weise durch das Immaterialgüterrecht, als dass es Schöpfungsleistungen im weiteren Sinne und den jeweils dafür geltenden Bedingungen zusätzlich schützt und einer persönlichen wie auch wirtschaftlichen Verwertung zugänglich macht, aber diese auch gegenüber Dritten vor Beeinträchtigungen schützt.294
Als Gegenbegriff zur Innovation lässt sich im Wettbewerb die Tradition beschreiben. Ihrem Wortlaut nach handelt es sich um weitergegebene Entscheidungen, die von ihrem Empfänger akzeptiert werden. Das Gegenbegriffliche ist darin zu sehen, dass eine Innovation sich mit der Zeit zur Tradition wandeln kann. Etwas ist dann nicht mehr innovativ. Das Aufeinandertreffen von Innovation und Tradition kann außerdem zu Entscheidungskonflikten darüber führen, welchem dieser Umstände der Vorrang eingeräumt werden soll. Gleichberechtigt steht die Erkenntnis, dass Innovation Nährboden für Tradition sein kann.295
Weitere systematische Abgrenzungen kommen im Hinblick auf die rechtspolitische Ausrichtung und die jeweilige Anwendung der Ergebnisse in Betracht. Innovation kann einerseits materieller Gegenstand kartellrechtlicher Betrachtungen sein, sodass es um die Untersuchung des Verhältnisses von „Innovation und Kartellrecht“ geht. Andererseits können Entwicklungen neuer methodischer und rechts-dogmatischer Ansätze untersucht werden, also „Innovation im Kartellrecht“. Hierbei könnte sich im Hinblick auf die angesprochenen wechselnden Sprachgebrauche besondere Probleme im Hinblick auf das der Innovation immanente Element der Veränderung ergeben.296 Schließlich könnten mit „Innovation durch Kartellrecht“ mögliche innovationsfördernde Ansätze des Kartellrechts untersucht werden.
Diese lassen sich im Wesentlichen in drei verschiedene Überlegungsstränge einordnen. Zum einen könnte aus dem geltenden Kartellrecht lediglich ein Effekt, nicht aber ein Grundsatz der Innovationsförderung entnommen werden. Dieser Ansatz bezieht sich vor allem auf die klassischen Wettbewerbstheorien sowie konventionelle Ansätze der kartellrechtlichen Methode. Dies wird zunehmend infrage gestellt, unter anderem durch den sogenannten „more economic approach“, der begrifflich von Vertretern der EU-Kommission geprägt wurde.297 Hieraus könnte sich zum anderen ergeben, dass bereits das geltende Kartellrecht mit seinen Auslegungsmöglichkeiten die Innovationsförderung zulässt oder sogar (mit-)bezweckt. Einher geht hiermit erneut die Frage nach dem rechtstheoretischen Begründungsaufwand für die Einbeziehung wissenschaftlicher industrieökonomischer oder wirtschaftstheoretischer Erkenntnisse. So könnte die Auslegung einerseits eine „unmittelbare“ Einbeziehung ermöglichen, andererseits eine eigenständige rechtswissenschaftliche Begriffsauslegung erfordern.298 Als drittes lassen sich die Möglichkeiten zusammenfassen, die sich von konventionellen kartellrechtlichen Begründungsansätzen lösen und darauf aufbauend sowohl Argumentationsstoff für eine grundsätzliche methodische Umwälzung im Bereich der Plattformen liefern als auch mögliche sektorspezifische Anpassungen im Sinne einer Regulierung in Erwägung ziehen.299
Auch ist eine Abgrenzung zur Verwendung des Begriffs „Wachstum“ erforderlich. So gehört ein „ausgewogenes Wirtschaftswachstum“ gemäß Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV zu den Zielen der Europäischen Union und sowohl das europäische wie das deutsche Kartellrecht dienen der Wahrung eines Wirtschaftswachstums. Wachstum meint in diesem Zusammenhang in einem größeren Zusammenhang eine „Entwicklung des Wirtschaftslebens“.300 Dieses wird bei einer wettbewerblich relevanten Veränderung häufig gegeben sein. Wirtschaftliches Wachstum ist nicht in jeder Situation gleichlautend mit Veränderung oder Fortschritt im Wettbewerb. So kann Wachstum durch die selbstständige Vermehrung eines bestimmten Reichtums eintreten, ohne dass es in wettbewerblicher Hinsicht zuvor zu einer Veränderung gekommen ist. Wachstum bedarf nicht zwingend eines Fortschritts, sondern kann in hier gesamtwirtschaftlich zu verstehender Weise auch auf anderem Wege erzielt werden. So könnten außerhalb des Wettbewerbsrechts stehende Umstände zu einer Wohlfahrtssteigerung führen, ohne dass es in wettbewerblich relevanter Weise zu einer Veränderung oder zu einem Fortschritt gekommen ist. Im Umkehrschluss könnten in wettbewerblicher Hinsicht relevante Veränderungen oder Fortschritte bestehen, die nicht zu einem Wirtschaftswachstum führen. Damit zeigt sich bereits die globale und stark politische Betrachtungsweise des Wachstumsbegriffs, der in einem Zusammenhang mit den anderen Zielen der Europäischen Union gelesen werden muss.
251 Wolf, Kartellrechtliche Grenzen von Produktinnovationen, 2004, S. 51f.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem, Innovationen im Recht, 2016, S. 11 (14). 252 Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, 2016, S. 191. 253 Vertiefend die Darstellung bei ebenda, S. 191ff. 254 Eifert, in: Hoffmann-Riem, Innovationen im Recht, 2016, S. 35, S. 44. 255 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2018, Rn. 152. 256 Hierzu zusammenfassend ebenda, Rn. 155d. 257 Podszun, in: Surblytė, Competition on the Internet, 2015, S. 101 (107f.); Lepore, The Disruption Machine, The New Yorker v. 16.6.2014, https://www.newyorker.com/magazine/2014/06/23/the-disruption-machine (abgerufen 14.12.2019). 258 Dahlmann, Das innovative Unternehmertum im Sinne Schumpeters: Theorie und Wirtschaftsgeschichte, 2017, Fn. 29. 259 Adolf, in: Hilty/Jaeger/Lamping,