Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen. Sebastian Louven
des Rechts und der Rechtserkenntnis aber kann die tatsächliche Komponente berücksichtigt werden. Dies gilt für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit besonders, da ein eigenständiger kartellrechtlicher Innovationsbegriff sich bislang nicht ausmachen lässt.249 Schließlich ist die Rechtswissenschaft als wertende Wissenschaft notwendigerweise an Tatsachen und Erkenntnisse gebunden, die ihr als zu bewertende Umstände vorgegeben werden.250
Die rechtliche Bewertung des Innovationsbegriffs setzt eine bestimmte, der Auslegung des jeweiligen Rechts entsprechende Anwendung dieses sprachlichen Ausdrucks voraus. Der aus dem feststellbaren sprachlichen Ausdruck abgeleitete Innovationsbegriff wird zum einen durch Einflüsse bereits bekannter innovationstheoretischer Ansätze und Erkenntnisse geprägt, die noch zu erörtern sind. Zum anderen kommt es nicht lediglich auf die dargestellten wirtschaftstheoretischen Grundlagen und Eingrenzungen eines möglichen, aber nicht abschließend rechtlich klärbaren Innovationsbegriffs im Wettbewerb an, sondern vielmehr sind diese ersten Annäherungen mit dem europäischen und deutschen Kartellrecht und Wirtschaftsverfassungsrecht überein zu bringen. Dies muss zum einen gelten, weil die Bewältigung innovationserheblicher Plattform-Sachverhalte notwendigerweise eine Festlegung dahingehend bedürfen, entweder was Innovation oder Innovationswettbewerb ist oder wie das geltende Recht ausgelegt werden muss, um innovationserhebliche Umstände erfassen zu können, oder aber wie das Recht selbst gelten kann oder fortentwickelt werden muss. Es kommt also auch auf die Klärung der damit verbundenen Frage an, ob und wie weit die dargestellten wettbewerbstheoretischen Ansätze hinsichtlich eines Innovationsbegriffs überhaupt rechtlich verwertet werden können. Innovation und Wettbewerb als auch ökonomisch untersuchbare Phänomene bilden im Zusammenhang mit rechtlichen Fragestellungen zunächst rechtliche Begriffe, die entsprechend nach rechtlichen Methoden ausgelegt werden müssen.
248 Drexl, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, Wettbewerbsverfassung, S. 935; Wieddekind, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, 2002, S. 134 (139); Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, 2016, S. 236. 249 Ewald, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, § 7, Rn. 11, 17ff. 250 Vgl. Wieddekind, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, 2002, S. 134 (139).
I. Innovationsausdruck
In seinem begrifflichen Verständnis ist der Ausdruck „Innovation“ stark umgangssprachlich geprägt.251 So wird er zwar zum einen allgemein als „Erneuerung“ verstanden.252 Zum anderen wird Innovation sehr häufig als Schlagwort verwendet. So steht Innovation sinnbildlich für alles, das nicht herkömmlich, überliefert, traditionell oder schlichtweg alt ist. Innovativ wird im Duden auch als „neu(-artig), einfallsreich, fantasievoll, ideenreich, innovationsfreudig, originell, schöpferisch oder kreativ“ beschrieben. Unternehmen möchten als innovativ wahrgenommen werden und beschreiben sich in Werbeauftritten entsprechend. Auch in Fachbeiträgen werden die Wörter „Innovation“ und „innovativ“ häufig nicht oder wenn, dann nur sehr vage beschrieben.253 Ähnlich ist dies bei gerichtlichen oder behördlichen Entscheidungen.254
Zwischenmenschliche Interaktion, sprachliche Ausdrücke und ihr Verständnis sind nicht statisch, sondern entwickeln sich dynamisch weiter. Deshalb kommt es zunächst für die Klärung eines auf einem sprachlichen Ausdruck basierenden Begriffs auf das gegenwärtige sprachliche Verständnis dieses Ausdrucks selbst an. Maßgeblich sind hierfür die innerhalb des betreffenden Sprachkreises einem Ausdruck zugesprochenen Assoziationen.255 Eine lediglich auf sprachliches Verständnis beschränkte Untersuchung würde in rechtlich zu bewertenden Zusammenhängen die Bedeutung eines Wortes vernachlässigen. Hierbei handelt es sich über das bloße Wortverständnis hinaus um den kommunikativen Sinn, den die Anwender einem sprachlichen Ausdruck in einem bestimmten Zusammenhang zuschreiben.256 Der Zusammenhang ist von der jeweiligen Verwendung eines Ausdrucks durch akzeptierte Sprachregeln geprägt, die im Folgenden untersucht werden. Maßgeblich für die rechtliche Bewertung eines Begriffs ist deshalb hiervon ausgehend ein objektiv feststellbarer Sprachgebrauch sowie allgemeine Regeln, innerhalb derer dieser Sprachgebrauch stattfindet. Diese können umgangssprachlich sein oder wissenschaftlich.
1. Etymologie
Das Wort „Innovation“ leitet sich lateinischen Substantiv „innovatio“ ab, welches sich mit „Erneuerung, Wandel, Veränderung oder Neuheit“ übersetzen lässt. Es wurde als Prädikatsnomen aus dem Verb „innovare“ gebildet, das entsprechend „erneuern“ bedeutet. Das deutschsprachige Verb „innovieren“ wird nur sehr selten verwendet und bedeutet nach der Beschreibung im Duden „eine Innovation vornehmen“. Im englischsprachigen Raum ist das Verb „to innovate“ üblicher.257 In den meisten europäischen Sprachen wird ein ähnliches Wort mit dieser etymologischen Herkunft verwendet, insbesondere bei starken romanischen Einflüssen in der jeweiligen Sprachenentwicklung. So heißt es im Englischen „innovation“, im Französischen „l’innovation“, im Spanischen „la innovación“, im Italienischen „l’innovazione“, im Portugiesischen „inovação“. Im deutschen Sprachraum wurde das Wort „Innovation“ erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts allgemeiner verwendet.258
2. Kategorische Eingrenzungen
Die sprachliche Herkunft des Ausdrucks Innovation allein macht nicht seine derzeitige rechtlich erhebliche Bedeutung aus. Noch weniger lässt sich hieraus auf die Bedeutung dieses Wortes im Zusammenhang mit rechtlichen Fragestellungen schließen. Denn unterschiedliche Sprachgebrauche zu einem bestimmten Wort können zu unterschiedlichen rechtlichen Einordnungen des Begriffs führen. Es kommt also in einem ersten Schritt darauf an, das betreffende Wort in seiner jeweils sprachlichen Verwendung zu spezifizieren. Im Hinblick auf das Wort „Innovation“ schließt dies Abgrenzungen zu einem lediglich worthülsenartigen Gebrauch sowie die Eingrenzung auf den Untersuchungsgegenstand ein. Anschließend ist zu untersuchen, welcher rechtlich relevante Begriff mit diesem Wort in Verbindung gebracht werden kann. Beides dient einer Abgrenzung des kartellrechtlichen Innovationsbegriffs zu einem allgemeinen gesellschaftswissenschaftlichen Innovationsbegriff.259 Hoffmann-Riem umschreibt Innovationen als „signifikante Neuerungen, die zur Bewältigung eines bekannten oder eines neuen Problems beitragen und gegenstandsbezogen etwa die Erzeugung und Verbreitung neuer Produkte, die Entwicklung von Verfahren oder die Schaffung von Strukturen oder die Herausbildung neuer sozialer Verhaltensweisen betreffen“.260 Dieser Definitionsansatz offenbart bereits mehrere Herausforderungen der derzeitigen rechtswissenschaftlichen Innovationsforschung. Die Annahme einer Signifikanzschwelle solle demnach zwar eine ausufernde Benutzung des Innovationsbegriffs zu verhindern helfen.261 Bislang scheinen sowohl Höhe, als auch Maßstab oder die Betrachtungsperspektive aber unklar. Zum anderen wird Innovation mit dem Begriff „Problem“ in einen Zusammenhang gebracht.262 Abgesehen davon, dass dieser Begriff nur schwer erfassbar ist und damit lediglich die sprachliche Erfassung des Innovationsbegriffs auf einen anderen Ausdruck verschoben wird, bleibt zunächst offen, was ein Problem in diesem Zusammenhang sein kann und aus welcher Sicht sich dies ergeben müsste. Dieser Erklärungsansatz beschreibt also lediglich einen möglichen und sehr engen Sprachgebrauch. Aus kartellrechtlicher Sicht kann an dieser Stelle bereits auf die Erheblichkeitsschwellen der jeweiligen Fachnormen und die objektiven Wertungen, die weitgehend losgelöst sind von individuell-subjektiven Einflüssen, hingewiesen werden.
Zunächst lassen sich verschiedene Bedeutungsgehalte des Innovationsbegriffs positiv feststellen, die für den weiteren Verlauf der Untersuchung relevant sein können. Dabei lassen sich folgende deskriptive und normative Sprachgebrauche in Bezug auf Innovation feststellen:263
1. Erneuerung und Veränderung, dynamisch (deskriptiv);
2. Fortschritt, progressiv (deskriptiv);
3. Vorsprung, positiv-kompetitiv (normativ);
4. Verdrängung und Exnovation, negativ-kompetitiv