Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen. Sebastian Louven
Untersuchungsaufwand beschreiben.
In der europäischen Kartellrechtspraxis wurde Innovation bislang vor allem im Zusammenhang mit möglichen Einwänden gegen eine mögliche Marktmachtstellung behandelt.231 Dieses Argument nimmt auch das Bundeskartellamt in einem Bericht auf.232 Demnach könnten Innovationen und deren wettbewerbliche Auswirkungen sich mindernd auf die Konzentrierungstendenzen bei digitalen Plattformen auswirken. Diese Praxis spiegelt sich auch in dem in § 18 Abs. 3a Nr. 5 GWB im Jahr 2017 neu eingeführten Marktstrukturkriterium „innovationsgetriebener Wettbewerbsdruck“ wieder.233 Ebenso könnte Innovation bei der Bewertung einseitiger Maßnahmen marktbeherrschender Unternehmen oder hinsichtlich der Wirkung eines Unternehmenszusammenschlusses herangezogen werden.234 Der Wortlaut sowohl des Art. 101 Abs. 1 AEUV als auch Art. 102 UAbs. 2 AEUV enthält Regelbeispiele, von denen die jeweilige lit. b auf „die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes, der technischen Entwicklung“ abzielt. Art. 101 Abs. 1 lit. b AEUV nimmt zusätzlich die Einschränkungen von Investitionen auf. Art. 102 UAbs. 2 lit. b AEUV sieht zusätzlich die Einschränkung zum Schaden der Verbraucher vor. In beiden Fällen könnte ein besonderer Bezug zu Innovationen anzunehmen sein. Allerdings hat sich die Praxis und Rechtsprechung auf der Ebene des Europäischen Kartellrechts von den Regelbeispielen gelöst und nimmt eine Einordnung weitgehend nach der Auslegung der Grundtatbestände vor.235 Dies ist in beiden Tatbeständen aufgrund der Formulierung „insbesondere“ möglich. Das Regelbeispiel enthält Fälle der Wettbewerbsbeschränkung, die auf die wirtschaftliche Entwicklung abzielen und spiegelt damit die Bedeutung der Innovationsförderung für die europäische Wirtschaftsordnung wieder.236
Auf der anderen Seite kann Innovation eine Relevanz im Hinblick auf die kartellrechtliche Unbedenklichkeit bestimmter Verhaltensweisen haben, wenn Innovation zum Wettbewerb gehört und eine Maßnahme zur Verbesserung wettbewerblicher Bedingungen dient oder ein Innovationsgut erhält.237 Die EU-Kommission geht davon aus, dass insbesondere digitale Plattformen besonders aktiv im Hinblick auf Innovationen sind und ständig neue Angebote entwickeln.238 Die bereits erwähnte Pfadabhängigkeit kann hierbei unter zwei Gesichtspunkten gesehen werden, die mit Routine und Bindungen zusammen hängen: Erstens könnte sich aus der Entscheidung für einen bestimmten Pfad eine weitere Entscheidung gegen eine Handlungsalternative ergeben, sodass damit verbundene Chancen nicht wahrgenommen werden. Zweitens könnten allerdings aufgrund der Entscheidung für einen bestimmten Pfad neue Chancen erst ermöglicht werden. Damit zusammen hängen unternehmerische Entscheidungen, die zu Verbindungen führen, die vorher bestehende Lücken in Pfaden schließen.239
Es kommt also im Zusammenhang mit digitalen Plattformen zu zahlreichen Veränderungen, die im weitesten Sinne neue Handlungsoptionen eröffnen oder Handlungsbedarf erfordern. Damit führen sie sowohl zu Markt- als auch Wettbewerbserweiterungen. Aber auch der Wettbewerb als solcher verändert sich unabhängig von digitalen Plattformen. Das Schutzgut des Kartellrechts selbst ist damit ebenso ständigen Entwicklungen ausgesetzt.
138 Zusammenfassend Dewenter/Rösch/Terschüren, NZKart 2014, S. 387 (387). 139 Insbesondere verwendet § 18 Abs. 3a GWB nicht den Begriff der Plattform, sondern „mehrseitige Märkte und Netzwerke“. Dies kann grundsätzlich für die Zwecke dieser Untersuchung als synonym zum Plattformbegriff gesehen werden, da es in diesem Zusammenhang auf die kartellrechtliche Erfassung von derart umschriebenen Sachverhalten ankommt. Auch die Begründung zur 9. GWB-Novelle verwendet durchgängig dieses Begriffspaar und den Plattformbegriff synonym und überlässt eine genaue Herausbildung begrifflicher Abgrenzungen der Praxis, vgl. Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drs. 18/10207, S. 47; insofern hat es erste Auseinandersetzungen mit diesem Begriffspaar unter anderem in der Facebook-Entscheidung des Bundeskartellamts gegeben, in der die Behörde lediglich eine Abgrenzung zum Zweck der einseitigen Untersuchung der Marktstellung auf dem von ihr angenommenen Markt für soziale Netzwerke für private Nutzer als einer Marktseite eines „Intermediärsprodukts“ vornahm, vgl. BKartA, Beschl. v. 6.2.2019 – B6-22/16 (Facebook), BeckRS 2019, 4895, Rn. 215; kritisch zu der Begriffsbildung auch Ewald, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, § 7, Rn. 71; Es soll deshalb an dieser Stelle nicht näher auf den Sprachgebrauch eingegangen werden, sondern stattdessen die Anwendung moderner Untersuchungskonzepte diskutiert werden. 140 Einführend hierzu: Dewenter/Rösch/Terschüren, NZKart 2014, S. 387 (388); Höppner/Grabenschröer, NZKart 2015, S. 162. 141 Dewenter/Rösch/Terschüren, NZKart 2014, S. 387 (387f.). 142 Vgl. hierzu die Zusammenfassung bei Höppner/Grabenschröer, NZKart 2015, S. 162 (162f.). 143 Bundeskartellamt, Arbeitspapier – Marktmacht von Plattformen und Netzwerken v. 9.6.2016, https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/Think-Tank-Bericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen 14.12.2019), S. 8ff. 144 Evans, YJR 2002, S. 325. 145 Schmalensee, JIE 2002, S. 103. 146 Rochet/Tirole, JEEA 2003, S. 990. 147 Armstrong, RJE 2006, S. 668. 148 Vgl. zusammenfassend hierzu: Budszinski/Lindstädt, WiST 2010, S. 436 (437); Dewenter/Rösch/Terschüren, NZKart 2014, S. 387 (388). 149 Budszinski/Lindstädt, WiST 2010, S. 436 (436). 150 BKartA, Beschl. v. 29.8.2008 – B6-52/08 (Intermedia Vermögensverwaltungs GmbH/Health & Beauty), BeckRS 2009, 4952, S. 21. 151 BKartA, Beschl. v. 19.1.2006 – B6-103/05 (Axel Springer AG/ProSiebenSat.1 Media AG), BeckRS 2016, 14199. 152 Bundeskartellamt, Digitale Ökonomie – Internetplattformen zwischen Wettbewerbsrecht, Privatsphäre und Verbraucherschutz v. 1.10.2015, https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Diskussions_Hintergrundpapier/AK_Kartellrecht_2015_Digitale_Oekonomie.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen 14.12.2019), S. 10; Bundeskartellamt, Big Data und Wettbewerb v. 6.10.2017, http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Schriftenreihe_Digitales/Schriftenreihe_Digitales_1.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (abgerufen 14.12.2019), S. 5; Bundeskartellamt, Arbeitspapier – Marktmacht von Plattformen und Netzwerken v. 9.6.2016, https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/Think-Tank-Bericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen 14.12.2019), S. 8f. 153 Kommission, Entsch. v. 18.2.2010 – COMP/M.5727 (Microsoft/Yahoo! Search Business), http://ec.europa.eu/competition/mergers/cases/decisions/M5727_20100218_20310_261202_EN.pdf (abgerufen 29.11.2018), Rn. 100f.; Kommission, Entsch. v. 7.10.2011 – COMP/M.6281 (Microsoft/Skype), ABl. C 341, 2, Rn. 81. 154 Einführend dazu: Dewenter/Rösch, Einführung in die neue Ökonomie der Medienmärkte, 2015, S. 27ff; Delfs, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, 2002, S. 171 (174f.); Dreher, ZWeR 2009, S. 149 (152). 155 Evans/Schmalensee, Matchmakers, 2016, S. 22; Blaschczok, Kartellrecht in zweiseitigen Wirtschaftszweigen, 2015, S. 29. 156 Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drs.18/10207, S. 49f.; Grave, in: Kersting/Podszun, Die 9. GWB-Novelle, Kapitel 2, Rn. 26; Ewald, in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, § 7, Rn. 70; vgl. auch Kommission, Entsch. v. 3.10.2014 – COMP/M.7217 (Facebook/WhatsApp), ABl. C 417, 4, Rn. 127. 157 Bardong, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, § 18 GWB, Rn. 154; Dewenter/Rösch, Einführung in die neue Ökonomie der Medienmärkte, 2015, S. 129f. 158