Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen. Sebastian Louven
mit Bezug zur Werbebranche mangels monetären Preises auf der einen Seite lediglich einen sachlich relevanten Markt angenommen.151 Mittlerweile geht die Behörde davon aus, dass die untersuchten Unternehmen ihre Leistungen gegenüber „faktisch zwei verschiedene(n) Kundengruppen (Marktseiten)“ anbieten, zwischen denen Wechselwirkungen bestünden und die demzufolge beide als Märkte zu untersuchen seien.152 Auch die EU-Kommission hat bereits die wettbewerblichen Besonderheiten digitaler Plattformen untersucht.153
1. Netzwerkeffekte
Netzwerkeffekte beschreiben tatsächliche Interdependenzen zwischen verschiedenen Nutzern oder Nutzergruppen einer Plattform.154 Entscheiden sich mehr Nutzer für eine bestimmte Plattform, steigt dadurch der Nutzen der Plattform für weitere Nutzer.155 Dieser sogenannte positive Netzwerkeffekt bedeutet also, dass der Nutzen der Plattform für jedes Individuum zunimmt, je mehr weitere Individuen sich für diese Plattform entscheiden.156 Direkte Netzwerkeffekte betreffen dabei die Auswirkungen der Entscheidungen von Individuen einer Nutzergruppe auf andere Individuen derselben Nutzergruppe, soweit diese als solche abgrenzbar ist.157 Sie hängen eng mit den für die Individuen verfügbaren Informationen zusammen und welche sie durch ihre Entscheidungen zu erlangen hoffen. Daneben nutzen Plattformen durch die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen Netzwerkeffekte aus und können dadurch eine für sie günstig wirkende zeitlich asymmetrische Informationslage hervorrufen.158 Diese kann sich im Extremfall zu einer als Hold-up bezeichneten Situation steigern, bei der ein Unternehmen durch die ihm zur Verfügung stehenden Informationen Bedingungen vereinbaren kann, die es beim tatsächlichen Verlauf aus einer späteren Sicht nicht in dieser Form treffen könnte.159 Allerdings muss selbst den Plattformen, die über eine derart asymmetrische Informationslage verfügen, nicht zwingend ihr unmittelbarer Nutzen bewusst sein. Dieser kann sich erst zu einem späteren Zeitpunkt ergeben, sodass Aussagen über den hypothetischen Verlauf äußerst vage sind.
Auf Plattformen haben die individuellen Entscheidungen der Nutzer nicht nur Auswirkungen auf andere Individuen derselben Nutzergruppe. Vielmehr wirken sich ihre Entscheidungen auch auf andere Nutzergruppen aus, die mit der Plattform verbunden sind.160 Dies ist bei den dargestellten Medien-Plattformen oder sozialen Netzwerken der Fall, wenn sich die zunehmende Anzahl von Mediennutzern oder Abonnenten und damit verbundene Reichweite positiv auf die Entscheidung von Inhalte- oder Werbeanbietern zur Teilnahme auswirkt. Bei Betriebssystemen steigt ebenso der Anreiz für Anbieter von Dritt-Anwendersoftware, mit der Plattform kompatible Software zu programmieren, wenn sich mehr Nutzer für ein bestimmtes Betriebssystem entscheiden. Bei Sharing-Plattformen kann sich die Entscheidung von Inhabern einer Ressource, diese über eine Plattform zu vermitteln, positiv auf diejenige Nutzergruppe auswirken, die diese Ressource potenziell nutzen wird. Diese Interdependenzen von Entscheidungen zwischen verschiedenen Nutzergruppen werden als indirekte Netzwerkeffekte bezeichnet.161 Sie können gegenseitig und in verschiedene Richtungen zwischen den unterschiedlichen Nutzergruppen bestehen. Zum Beispiel kann ein positiver indirekter Netzwerkeffekt bei einer Suchmaschine darin bestehen, dass sich die Zahl der indexierten Internetinhalte positiv auf die Nutzungserfahrung derjenigen Nutzer auswirkt, die auf der Suche nach bestimmten, zu ihrer Sucheingabe passenden Inhalten sind. Die durch positive Nutzungserfahrungen ansteigende Zahl der Suchmaschinennutzer könnte sich dann wiederum verstärkend auf die Entscheidung von Werbeanbietern auswirken, sodass dort wiederum ein positiver indirekter Netzwerkeffekt ausgemacht werden kann.
Netzwerkeffekte können sich gegenseitig selbst verstärken, sodass Konzentrierungstendenzen zugunsten weniger oder eines Anbieters auftreten können, denen als Begleiterscheinung die Gefahr eines „Umkippens der Märkte“, dem sogenannten Tipping zugeschrieben wird.162 Darunter werden starke Abwanderungsbewegungen einzelner Nutzer und Nutzergruppen zu der Plattform mit den am stärksten wirkenden indirekten Netzwerkeffekten verstanden, sodass negativ von dem Tipping betroffene Plattformen vom Markt verdrängt werden könnten.163 Die mit der 9. GWB-Novelle neu eingeführte Vorschrift in § 18 Abs. 3a Nr. 1 GWB ermöglicht die Feststellung von Netzwerkeffekten im Zusammenhang mit der Untersuchung einer Marktbeherrschung. Sie wird in der Regel gemeinsam mit weiteren wettbewerblichen Phänomenen betrachtet werden müssen, insbesondere wenn es um die Feststellung eines „umgekippten Marktes“ geht, also eines sogenannten Tippings.164 Hierzu lässt sich festhalten, dass ein Tipping bislang eher theoretisch erscheint und nur vereinzelt im Rahmen eines kartellrechtlich zu untersuchenden Sachverhalts als naheliegend untersucht wurde.165 Insofern gehen die meisten bisherigen Literaturansichten lediglich von einer „Gefahr des Tippings“ aus.166 Eine erste umfangreiche Bewertung dieser Umstände jedenfalls für einen Markt, auf der eine Plattform tätig war, hat das Bundeskartellamt mit seiner Facebook-Entscheidung vorgenommen und dabei die mit der 9. GWB-Novelle eingeführten plattformspezifischen Kriterien herangezogen.167 Allerdings nahm diese Behörde lediglich einen „Tipping-Prozess“ an, der das Unternehmen Facebook schließlich als Monopolisten herausbringe.168 Sofern diese marktbezogene Entwicklung feststellbar ist, können Netzwerkeffekte gleichzeitig eine Marktzutrittsschranke darstellen.169 Dies wäre der Fall, wenn die Netzwerkeffekte in die Marktstruktur internalisiert werden und sich als Erfordernis einer erheblichen Investition für den Markteintritt darstellen würden.170 Weitgehend wird bei Netzwerkeffekten von einem besonderen unternehmensbezogenen Umstand auszugehen sein, der noch keine Marktzutrittsschranke darstellt. Denn allein das Bestehen der Netzwerkeffekte hindert andere Unternehmen noch nicht an einem Marktzutritt. Sie wirken nicht abstrakt-generell gegenüber jedem Unternehmen, sondern konkret-individuell für das Unternehmen, das seine Wirkungen für sich nutzbar machen kann. Gleichzeitig kann es die Rechtsanwendung vor Herausforderungen stellen, aus dem Bestehen von Netzwerkeffekten auf bestehende Marktzutrittsschranken zu schließen.171 Dennoch kann es einem Unternehmen aufgrund der Konzentrationstendenzen möglich sein, sich unabhängig im Wettbewerb zu verhalten und Vorsprünge für sich auszunutzen. Andererseits können digitale Plattformen ebenso bisherige Marktzutrittsschranken überwinden und Nutzer an für sie neuen Handlungsformen teilhaben lassen, etwa indem sie bisherige Luxusangebote für einen größeren Nutzerkreis erlebbar machen. Damit können digitale Plattformen auch neue Teilhabemöglichkeiten schaffen.
Anders herum lässt sich allerdings bezweifeln, dass sich die Zunahme von Werbeanbietern, die aufgrund der Reichweite der Plattform ihre Inhalte schalten lassen, in jedem Fall positiv und damit marktmachtbestärkend auswirken wird.172 So erscheint es bei Medien- und Aufmerksamkeitsplattformen naheliegend, für Werbeinhalte auf der Seite der Plattformnutzer eine Toleranzschwelle anzunehmen, ab deren Überschreitung das Interesse der Nutzer aufgrund eines Übermaßes an Werbung abnimmt.173 Die indirekten Netzwerkeffekte sind bei derartigen Plattformen häufig nur einseitig oder asymmetrisch ausgeprägt.174 Es können sogar indirekte Netzwerkeffekte mit umgekehrten Vorzeichen bestehen. Das bedeutet, dass die Anzeige und Vermittlung zusätzlicher Werbeinhalte ab einem bestimmten Punkt sich entweder nicht oder sogar negativ auf die Entscheidungen der anderen Nutzergruppe auswirken kann.175
2. Henne-und-Ei-Paradoxon
Da Plattformen mittels indirekter Netzwerkeffekte verschiedene Nutzergruppen an Bord holen und ihre Interessen miteinander vernetzen, sind sie mit dem Henne-und-Ei-Paradoxon konfrontiert.176 Dieses stellt sich insofern dar, dass ein Netzwerk für einzelne Nutzer regelmäßig keinen Wert hat, wenn dort nicht interessengerecht bereits andere Nutzer derselben Nutzergruppe oder einer anderen Nutzergruppe angemeldet sind. Das bedeutet zum einen, dass Plattform-Anbieter nicht nur Nutzer einer Gruppe für ihr Angebot gewinnen müssen, sondern ebenso Nutzer der vernetzten anderen Gruppe. Damit geht das Risiko einher, auf beiden Seiten der Plattform überhaupt erst auf einem Markt tätig zu werden und eine das Geschäftsmodell tragende Nutzeranzahl zu gewinnen. Zum anderen ist aber, wenn der Erfolg des Geschäftsmodells von den gegenseitig interdependenten und sich verstärkenden Entscheidungen der vernetzten Nutzergruppen abhängt, der Markteintritt mit einer hohen Ungewissheit verbunden, welche der anzusprechenden Nutzergruppen zuerst gewonnen werden soll, um anschließend mit deren Reichweite die andere Nutzergruppe zu gewinnen.177 Unternehmen trifft also ein hohes in wirtschaftlicher Hinsicht Vorleistungsrisiko, wenn sie nicht bereits bestehende Strukturen und Netzwerkeffekte ausnutzen können. Plattformen können dieses Henne-und-Ei-Paradoxon vor allem dadurch bewältigen, dass sie den bereits