Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
Zwang, Öffnen der Tür mit Schlüsseldienst, Anlegen der Handfesseln
Fall 7: Kindesmisshandlung
Schwerpunkte: Unmittelbarer Zwang, körperliche Untersuchung von Kindern
Fall 8: Menschen in der Innenstadt
Fall 9: Provokation durch Mohammed-Karikaturen
Fall 10: Die überwachte Versammlung
Fall 11: Die Sitzblockade
Fall 12: Verbotene Gegenstände bei strategischer Fahndung
Fall 13: Rauschgiftdeal
Fall 14: Das Überraschungsmoment
Fall 15: Der Gefährder
Stichwortverzeichnis
Fall 1: Angetrunkener Fußballfan
Schwerpunkte: Platzverweis, Generalklausel, Gewahrsam, Dauer des Gewahrsams zum Zwecke der Identitätsfeststellung, Zwang, Sofortvollzug und gestrecktes Verfahren
Der Busbahnhof von A-Stadt ist regelmäßig Treffpunkt für jugendliche Fußballfans aus A-Stadt und Umgebung. Im Bereich des Busbahnhofes – wo es häufig zu Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fangruppen kommt – sind zahlreiche Polizeibeamte eingesetzt. Im Zusammenhang mit zurückliegenden Spielen hatten Fans wiederholt Pyrotechnik gezündet. Mehrere Personen waren verletzt worden.
PK A und PK B werden während des (Fußball-)Einsatzes im Vorfeld des Spiels von dem Busfahrer F um Hilfe gebeten. In seinem Bus randaliert der 19-jährige angetrunkene Z, der trotz mehrfacher Aufforderung des F nicht bereit ist, den Bus zu verlassen. Als PK A den Z auffordert, den Bus zu verlassen, wird er von ihm unvermittelt tätlich angegriffen. Mittels eines Sprühstoßes aus seinem Reizstoffsprühgerät (RSG) kann er den Angriff abwehren. Anschließend wird Z gewaltsam aus dem Bus transportiert. Während der Busfahrer seine Fahrt fortsetzt, randaliert Z weiter und ist nicht zu beruhigen. So pöbelt er Passanten an und fordert gegnerische Fans zum „Streetfight“ heraus. Z soll daraufhin dem Polizeigewahrsam zugeführt werden. Er ist nicht bereit, der Maßnahme Folge zu leisten und weigert sich vehement, sich in den Streifenwagen zu begeben.
Z wird daraufhin von den Beamten kräftig an den Armen gepackt und in den Streifenwagen gezerrt. Im Streifenwagen erkennt er die Aussichtslosigkeit seiner Aktionen und „fügt sich seinem Schicksal“.
Aufgabe:
Beurteilen Sie rechtsgutachtlich die von der Polizei getroffenen Maßnahmen.
– Aufforderung an Z zum Verlassen des Busses
– Abwehr des Angriffs (Z) mittels eines RSG durch PK A
– Gewaltsames Transportieren des Z aus dem Bus
– Gewahrsam
– Zwang (Durchsetzung Gewahrsam)
Hinweis: Die örtliche Zuständigkeit als formelles Erfordernis kann unterstellt werden.
Lösung:
A. Aufforderung an Z zum Verlassen des Busses
I. Ermächtigungsgrundlage
Ein Platzverweis ist ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit).1 Nach a. A. handelt es sich um einen Eingriff in die körperliche Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG).2 Ein Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) wird indes abgelehnt, weil von den Adressaten nicht verlangt wird, an einem bestimmten Ort zu verbleiben und deshalb nicht in die Fortbewegungsfreiheit eingegriffen wird.3 Nicht eingegriffen wird vorliegend in das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG).4 Zielrichtung ist die Gefahrenabwehr. Es handelt sich um eine präventiv-polizeiliche Maßnahme (§ 1 PolG NRW), die sich als Verwaltungsakt darstellt (§ 35 Satz 1 VwVfG NRW).5 § 34 PolG NRW ist eine sog. Befehlsermächtigung. Derlei (Befehls-)Ermächtigungen rechtfertigen den Erlass eines Ge- oder Verbots (= Verwaltungsakt).
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Die Maßnahme dient der Gefahrenabwehr. Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Satz 1, 2 PolG NRW i. V. m. § 11 Abs. 1 Nr. 1 POG NRW. Gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW hat die Polizei die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Gefahrenabwehr). Relevant sind nur solche Gefahren, die der öffentlichen Sicherheit drohen. Die Sicherheitsgüter lassen sich in kollektive (Integrität der Rechtsordnung und Funktionsfähigkeit des Staates) und in die individuellen Sicherheitsgüter (Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum, Vermögen) einteilen.6 Gefahr ist eine Sachlage, die einen Schaden für die öffentliche Sicherheit erwarten lässt. Das ist insbesondere gegeben, wenn ein tatsächliches Geschehen den Schluss rechtfertigt, dass möglicherweise individuelle Rechte wie Leib, Leben, Gesundheit usw. einer Person oder das Sicherheitsgut „Rechtsordnung“ zu Schaden kommen könnten. Die Gefahr besteht