Mütter. Anja Bagus

Mütter - Anja Bagus


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sie am Kopierer. Thor ahnte, dass nun der Moment gekommen war. Er stellte sich den Ritter auf dem Foto vor, bekam Schwung in seine Bewegungen und schritt ehrerbietig auf den Kopierer zu. Es wunderte ihn nicht, dass er diesmal keinen großen Mut aufbringen musste, zu ihr hinzugehen und sie anzusprechen, und so sagte er mit feierlich tiefer Stimme:

      „Hallo.“

      „Hallo, kann ich dir helfen?“

      „Nein, also, ich dachte, ich könnte dir helfen. Hast du Probleme mit dem Rechner?“

      „Nein.“

      „Aber mit dem Kopierer?“

      „Nein, gar nicht. Sehe ich so aus?“

      „Ja, also ich dachte, wahrscheinlich hast du sie. Aber vielleicht ist das mit dem Rechner auch gar nicht wichtig. Aber falls du Hilfe brauchst, bin ich für dich da.“

      „Danke, aber ich brauche wirklich keine Hilfe. Ich muss nur hiermit heute fertig werden.“

      „Ach so, ja, wenn du fertig bist, gehen wir einen Kaffee trinken?“

      „Warum sollten wir das?“

      „Naja, ich dachte, wenn es vielleicht doch irgendwelche Probleme gibt, dann kann man die ja am besten bei einem Kaffee besprechen.“

      „Hör zu, ich weiß jetzt nicht, was das soll. Aber wenn ich Probleme mit dem Computer habe, frage ich meinen Freund. Und jetzt entschuldige mich, ich muss das hier fertig machen.“

      In seiner Brust spürte Thor ein höllisches Ziehen und sein Magen krampfte sich zusammen. Die Wirklichkeit, nein, die Menschheit kannte wirklich keinen Zauber mehr, dachte er. Wie ein Aussätziger stand er noch ein paar Sekunden neben dem Kopierer, dann ging er verschämt zurück zu seinem Arbeitsplatz.

      Vanessa hielt gerade den Bilderrahmen in der Hand und fragte ihn, was das für einer sei. Doch Thor antwortete nicht, nahm seinen Rahmen und verschwand aus der Bibliothek.

      Den Rahmen wie das Foto einer vermissten Person vor sich haltend, rannte Thor ziellos durch die Straßen. Die Braut sah Fiona ähnlich, aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Der Bilderrahmen hatte ihn bisher nicht im Stich gelassen, deshalb konnte es einfach nur so sein, dass eine andere Frau gemeint war. Am Trödelladen von Herrn Koreander sah er wieder das Mädchen, das von der Polizei abgeführt worden war, als er den Rahmen gekauft hatte. Und da Thor in den letzten Tagen gelernt hatte, auf das Schicksal zu vertrauen, fiel ihm sofort auf, dass auch sie der Frau auf dem Foto ähnlich sah, dachte man sich die Ringe aus ihrem Gesicht weg und stellte sie sich mit ihren blonden Haaren ohne Mütze vor. Natürlich, dachte er. Ihr Schmuck, ihre Kleidung, sie waren wie eine Maske, in Wahrheit steckte eine ganz andere Frau in ihr, die darauf wartete, dass man anklopfte und sie hinaus bat. Es konnte kein Zufall sein, dass sie da war, gerade als der Rahmen in sein Leben getreten war. Er sah Herrn Koreander durch das Schaufenster mit dem Rücken zu ihm stehen, als er sich vor die Frau stellte.

      „Hallo, möchtest du vielleicht mit mir mitkommen?“

      „Mitkommen? Was bist du denn für einer?“

      „Ich möchte dir helfen. Möchtest du etwas zu essen?“

      „Ich habe schon gegessen.“

      „Dann vielleicht etwas trinken oder sonst etwas?“

      „Nein, lass mich in Ruhe!“

      „Aber dir geht es doch nicht gut. Das sieht man. Wenn du …“

      „Was willst du von mir? Du hast sie doch nicht alle!“

      „Ich habe dich vor ein paar Tagen gesehen, als du von der Polizei abgeführt wurdest.“

      „Ach so einer bist du. Jetzt mach bloß, dass du verschwindest. Als ob ich mit jedem Arsch mitgehen würde. Das habe ich nicht nötig. Also, verpiss dich!“

      Zutiefst beschämt schritt er weiter und sah sich nicht um, bis er sich hinter der nächsten Ecke befand. Doch war sein Glaube noch nicht gebrochen. Es zog ihn weiter durch die Stadt. Eigentlich musste er sich einfach nur treiben lassen, dachte er, musste es dem Zufall überlassen, dass er heute – und wann sonst, wenn der Rahmen es ihm prophezeite – seiner Traumfrau begegnen würde; einer Frau, die wie eine Königin aussah. Vielleicht traf er sie in einem Brautgeschäft, oder auf der Königsstraße in der Innenstadt, vielleicht war es die Verkäuferin mit der schwarzen Brille und der Tätowierung auf dem Oberarm im Games Workshop oder eine, die sich zufällig neben ihn stellen würde, wenn er an der Ampel stand.

      Thor lief lange durch die Straßen, ohne dass irgendetwas geschah. An diesem Nachmittag stieß er einige Flüche aus. Zunächst verfluchte er Fiona, die ihm mit ihrem Lächeln falsche Träume eingeflößt und so in sein Schicksal eingegriffen hatte, dann die Frau von der Straße, die lieber in der Gosse lag, als mit ihm zu gehen. Er verfluchte die Verkäuferin und schließlich alle Frauen, die jemals nett zu ihm gewesen waren und ihn so auf eine falsche Fährte gelockt hatten. Aber irgendwann verfluchte er nur eins: Den Bilderrahmen, der ihm all diese falschen Illusionen gezeigt und ihn dazu gebracht hatte, dass er nun mit nichts dastand. Er wollte ihn zerstören, wegschmeißen, einschmelzen, in Beton eingießen und am tiefsten Grunde des Ozeans versenken.

      Doch als er schließlich zuhause angekommen war, ließ er ihn ganz. Er schrieb Vanessa und sagte den DVD-Abend ab, dann stellte er den Bilderrahmen an seinen Platz. Er hatte endlich verstanden, was er ihm sagen wollte.

      „Hallo Thor“, sagte Vanessa, als er am folgenden Vormittag neben ihr Platz nahm, „Hast du heute nicht frei? Hast du gestern noch Deine Beförderung gefeiert?“

      „Nein, das nicht gerade.“

      Vanessa sah ihn an, als erwarte sie, dass er noch etwas sage. Dann ließ sie von der Tastatur ab und wandte sich ihm zu.

      „Nachdem du gegangen warst, habe ich mir schon gedacht, dass du nicht mehr zu mir kommst. Ich dachte, irgendwas wäre passiert. Du siehst heute ja schon wieder viel besser aus, nur ein wenig übermüdet.“

      „Ja, das stimmt, es tut mir leid, dass ich so kurzfristig abgesagt habe. Aber gefeiert habe ich nicht. Ich habe mich gestern bescheuert aufgeführt. Keine Ahnung, was los war. Doch, eigentlich weiß ich es.“

      „Hatte es vielleicht etwas mit dem Bilderrahmen zu tun, den du bei dir hattest?“

      „Was? Wie kommst du darauf?“

      „Das ist ein komisches Ding. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es einmal meinem Bruder gehört hat.“

      „Deinem Bruder?“

      „Ja, aber wir haben ihn zum Trödler gegeben, also den Rahmen, nicht meinen Bruder.“

      Vanessa lächelte und das gefiel Thor.

      „Dann ward ihr die Familie, die ihn zu Herrn Koreander gebracht hat?“

      „Das waren wohl wir.“

      „Und warum? Der Trödler hat gesagt, an dem Rahmen wäre etwas Sonderbares.“

      „Nun, ich weiß nicht, aber es ist schon etwas sonderbar damit. Wir haben den Rahmen gekauft und mein Bruder hat ihn sich ins Zimmer gestellt. Er ist stundenlang, manchmal ganze Tage nicht aus seinem Zimmer gekommen und muss wohl nur diesen Bilderrahmen angestarrt haben.“

      „Und warum?“

      „Das weiß ich nicht. Er wollte es nicht sagen. Damals war er in der Pubertät und ich bin sicher, er hat sich Bilder von nackten Frauen draufgeladen oder so. Denn keiner durfte mehr zu ihm ins Zimmer. Aber zugeben wollte er es nicht. Kein Wunder … Wieso fragst du?“

      „Ach, nichts. Ich glaube, ich werde den Rahmen auch wieder zurückgeben.“

      „Du willst ihn zurückgeben?


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