Die straf- und bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit der Diensteanbieter sozialer Netzwerke im Internet. Timo Handel
die Notwendigkeit einer gewissen (Ziel-)Vorstellung des Handelnden als kognitives Element.510
Bei solchen subjektiv gefassten Merkmalen „kommt [es] ausschließlich darauf an, was sich der Täter vorgestellt hat“, sodass eine analoge Anwendung des § 16 Abs. 2 StGB, aber auch des § 35 Abs. 2 StGB ausscheidet.511 Eine analoge Anwendung von § 35 Abs. 2 StGB scheidet zudem aus, weil sich der Diensteanbieter im Falle seiner Haftungsprivilegierung nach §§ 8 bis 10 TMG nicht in einer persönlichen Zwangslage befindet, die aber Voraussetzung für eine Entschuldigung nach § 35 Abs. 1 StGB und damit Gegenstand des Irrtums nach § 35 Abs. 2 StGB ist.512 Eine analoge Anwendung des § 17 StGB, der einen Irrtum darüber betrifft, „dass ein bestimmtes, vom Täter in seiner objektiven Beschaffenheit richtig erkanntes Verhalten rechtlich verboten ist“,513 scheidet aufgrund der Ähnlichkeit der §§ 8 bis 10 TMG mit persönlichen Strafausschließungsgründen ebenfalls aus.514 Die Haftungsprivilegierungen des TMG lassen nämlich das Unrecht der Tat unberührt und beruhen auf rechtspolitischen Erwägungen. Diese Erwägungen haben dazu geführt, dass der Gesetzgeber für bestimmte, in den §§ 8 bis 10 TMG geregelte, Bereiche die Strafbarkeit von Diensteanbietern beschränkt hat. Ließe man einen Irrtum nach § 17 Satz 1 StGB zu, würde die Reichweite der Haftungsprivilegierungen von den Vorstellungen des Diensteanbieters abhängen, was der gesetzlichen Konzeption der Haftungsprivilegierungen als Ausnahmeregelungen, die grundsätzlich eng auszulegen sind, nicht gerecht würde. Die Entscheidung über eine Privilegierung in bestimmten Konstellationen aus besonderen, außerstrafrechtlichen Gründen, kann zudem nur der Gesetzgeber treffen und nicht dem Vorstellungsbild des Täters überlassen werden.515
Demnach ergibt sich die Berücksichtigungsfähigkeit eines Irrtums über Umstände, welche die Merkmale ausfüllen, auf die sich die subjektiven Elemente im Rahmen der §§ 8 bis 10 TMG beziehen, aus dem subjektiven Element selbst, sodass bei Vorliegen eines entsprechenden Irrtums die subjektiven Voraussetzungen für das Entfallen der Haftungsprivilegierungen nicht vorliegen.
d. Beschränkter umgekehrter Irrtum?
Aufgrund der hier vertretenen (beschränkten) Zulassung von Irrtümern stellt sich die Frage, ob und inwieweit auch ein umgekehrter Irrtum über die Umstände, die zu einem Entfallen der Haftungsprivilegierungen führen, möglich ist. Ein umgekehrter Tatbestandsirrtum liegt bspw. vor, wenn „sich der Täter irrig vorstellt, tatbestandliches Unrecht zu verwirklichen“.516 Grundsätzlich wird bei einem solchen davon ausgegangen, dass „ein belastender Irrtum, der ‚umgekehrt‘ nach § 16 StGB entlasten würde, also die irrige Annahme von Umständen, die den gesetzlichen Tatbestand verwirklichen würden, [...] die Versuchsstrafbarkeit begründen [kann]“.517 Übertragen auf die §§ 8 bis 10 TMG würde dies bedeuten, dass eine Privilegierung des Diensteanbieters zu verneinen wäre, wenn dieser von einem Vorliegen der zu einem Entfallen der Haftungsprivilegierung führenden Umstände ausgeht, z.B. von der Rechtswidrigkeit der Handlung in § 10 Satz 1 TMG, obwohl diese tatsächlich nicht gegeben sind.518
Ein solcher umgekehrter Irrtum ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt.519 Seine Zulassung bezogen auf die Voraussetzungen der §§ 8 bis 10 TMG würde deren Konzeption zuwiderlaufen. Ziel dieser Regelungen ist es nämlich, für die Diensteanbieter Rechtssicherheit zu schaffen. Zudem beruhen die Haftungsprivilegierungen auf den Art. 12 bis 14 ECRL, die eine Vollharmonisierung und damit einen Mindeststandard an Rechtssicherheit für die Diensteanbieter bezwecken.520 Würde man in diesem Zusammenhang umgekehrte Irrtümer zulassen, würde die Reichweite der Haftungsprivilegierungen von der diesbezüglichen Irrtumsdogmatik in den einzelnen Mitgliedstaaten abhängen, was zu einem unterschiedlichen Mindestschutz führen könnte, wenn bspw. ein Mitgliedstaat umgekehrte Irrtümer zulässt und ein anderer aber nicht. Darüber hinaus hätte die Zulassung eines umgekehrten Irrtums zur Folge, dass der Diensteanbieter bei fehlerhafter Vorstellung ggf. auch dann strafrechtlich sanktioniert werden könnte, wenn er nicht gegen rechtmäßige und ggf. von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Informationen vorgeht. Ein Ergebnis, das gerade mit Blick auf den Grundrechtsschutz der Meinungsfreiheit abzulehnen ist.
Ein umgekehrter Irrtum ist demnach bezogen auf §§ 8 bis 10 TMG nicht zuzulassen.
e. Ergebnis zur Bedeutung der dogmatischen Einordnung für die Annahme eines Irrtums
Bei einem Irrtum über das Vorliegen der Voraussetzungen der Haftungsprivilegierungen des TMG ist im Ergebnis zu unterscheiden. Ein solcher ist nur dann beachtlich, wenn er sich auf Umstände bezieht, die ein subjektiv geprägtes Merkmal der §§ 8 bis 10 TMG ausfüllen. Dieser Irrtum führt nach allgemeinen Rechtsgedanken bzw. einer Auslegung der Voraussetzungen der Haftungsprivilegierungen dazu, dass das subjektive Merkmal, über das geirrt wird, nicht vorliegt. Ein umgekehrter Irrtum, insb. der Fall eines Nichtkennens der Haftungsprivilegierung oder die irrige Annahme der Voraussetzungen, die zu ihrem Entfallen führen, ist hingegen unbeachtlich.
3. Bedeutung der Einordnung für die Teilnahmestrafbarkeit
Angesichts der hier vertretenen Einordnung der Haftungsprivilegierungen als eigenständige und außerhalb der Haftungsnormen zu prüfende Vorfilter bleibt eine Beihilfe (§ 27 Abs. 1 StGB) für Mitarbeiter und Beauftragte des Diensteanbieters auch im Falle dessen Haftungsprivilegierung möglich.521 Dies hat jedoch nur geringe Bedeutung. Zum einen bleibt wegen § 28 Abs. 2 StGB und § 14 Abs. 3 OWiG auch bei den weiteren Auffassungen – mit Ausnahme einer Qualifizierung als Rechtfertigungsgrund – eine Teilnahme möglich. Zum anderen sind insbesondere Mitarbeiter und sonstige Beauftragte des Diensteanbieters in analoger Anwendung der §§ 8 bis 10 TMG unter den Begriff des Diensteanbieters zu subsumieren, sodass die Haftungsprivilegierung auch auf diejenigen Personen ausgedehnt wird, die unterstützend für den Diensteanbieter tätig sind.522
Zudem ist folgendes zu bedenken: Im Falle einer Gehilfenhandlung durch eine den Diensteanbieter unterstützende bzw. für ihn handelnde Person leistet diese nur dann eine Beihilfe (§ 27 Abs. 1 StGB) gegenüber dem Diensteanbieter, wenn dieser Täter (§ 25 StGB) ist. Ist der Diensteanbieter hingegen lediglich Gehilfe in Bezug auf eine Haupttat seines Nutzers, fördert die für den Diensteanbieter handelnde Person mit ihrer eigenen Beihilfehandlung nicht die Beihilfe des Diensteanbieters, sondern die Haupttat des Nutzers. Die Beihilfe der handelnden Person zu einer Beihilfe des Diensteanbieters stellt deshalb eine Beihilfe zu der Haupttat des Nutzers dar.523 In diesem Fall ist es für eine Beihilfestrafbarkeit der handelnden Person unerheblich, ob die Beihilfestrafbarkeit des Diensteanbieters aufgrund einer Haftungsprivilegierung nach §§ 8 bis 10 TMG entfällt.524 Denn die Tat des Nutzers als Anknüpfungstat für den Beihilfevorwurf gegenüber der für den Diensteanbieter handelnden Person bleibt hiervon unberührt. Aufgrund der eigenen Privilegierung der handelnden Person durch eine analoge Anwendung der Haftungsprivilegierungen ist dieses Ergebnis auch billigenswert. Anderenfalls wäre die handelnde Person z.B. im Falle des § 10 Satz 1 TMG selbst dann privilegiert, wenn sie positive Kenntnis von der Nutzertat hat und diese durch ihre Tätigkeit für den Diensteanbieter mit dolus directus ersten Grades fördert, der Diensteanbieter selbst aber in seiner Haftung privilegiert ist, da er keine Kenntnis hat oder er trotz Kenntnis die erforderliche Handlung zur Erhaltung seiner Haftungsprivilegierung nur deshalb nicht vornimmt, weil sie ihm unmöglich oder unzumutbar ist. Gleiches gilt, wenn die Handlung des Diensteanbieters nicht zum Erfolg der Entfernung der Information oder der Sperrung des Zugangs zu der Information führt. Die Lösung über eine analoge Anwendung der Haftungsprivilegierungen führt dann im Fall des § 10 Satz 1 TMG dazu, dass die für den Diensteanbieter handelnde Person selbst tätig werden muss, um ihre Haftungsprivilegierung nicht zu verlieren. Dieses Tätigwerden wird in der Regel in einer Mitteilung an den Diensteanbieter liegen, der dann selbst Kenntnis erlangt und i.S.d. § 10 Satz 1 Nr. 2 TMG tätig werden muss, um seine Haftungsprivilegierung nicht zu verlieren.
Kommt anstelle einer Beihilfe durch die für den Diensteanbieter handelnde Person eine Anstiftung (§ 26 StGB) in Betracht, ist bereits kein Grund ersichtlich, wieso die handelnde Person privilegiert werden sollte. Die Anstiftung zur Anstiftung (sog. Kettenanstiftung) wird ebenso wie die mittelbare Beihilfe als Anstiftung zur Haupttat bestraft,525