Die straf- und bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit der Diensteanbieter sozialer Netzwerke im Internet. Timo Handel
grundsätzlich dazu geeignet ist, den Eindruck zu erwecken, dass erst die Haftung nach den allgemeinen Vorschriften, z.B. die Verantwortlichkeit nach den einschlägigen Straftatbeständen, zu prüfen ist, bevor die Verantwortlichkeit ggf. durch die Haftungsprivilegierungen ausgeschlossen wird.449 Dem widersprechen jedoch die der konkreten Formulierung vorausgehenden Ausführungen in der Gesetzesbegründung. Nach diesen muss „bevor ein Diensteanbieter auf [...] Grundlage“ der allgemeinen Vorschriften „zur Verantwortung gezogen werden kann, [...] allerdings geprüft werden, ob die aus den allgemeinen Vorschriften folgende Verantwortlichkeit nicht durch die §§ 9 bis 11 [jetzt §§ 8 bis 10 TMG] ausgeschlossen ist“.450 Diese Formulierung spricht klar dafür, dass der Gesetzgeber eine Prüfung der Haftungsprivilegierungen in einem ersten Prüfungsschritt vorgelagert vor dem allgemeinen Haftungstatbestand bezweckt hat.
b. Haftungsprivilegierungen beinhalten eine Weichenstellung
Dies spiegelt sich auch in der gesetzlichen Konzeption der §§ 7 bis 10 TMG wider, die mit ihren Regelungen eine Weichenstellung im Hinblick auf eine mögliche Verantwortlichkeit nach den allgemeinen Vorschriften beinhalten:451 Aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 TMG, der bestimmt, dass Diensteanbieter „für eigene Informationen [...] verantwortlich“ sind, ergibt sich eine Zweistufigkeit der Haftungsprüfung. In diesem Zusammenhang folgt aus der Formulierung der §§ 8 bis 10 TMG eine Einordnung als Vorprüfung. Nach diesen ist eine Haftung für fremde Informationen nur in den dort bestimmten Konstellationen gegeben bzw. der Diensteanbieter ist „nicht verantwortlich, sofern“ nicht bestimmte Voraussetzungen vorliegen, welche die jeweilige Privilegierung entfallen lassen.452 Die Haftung nach den allgemeinen Haftungsnormen kann daher schon nach den Formulierungen der §§ 8 bis 10 TMG erst dann erfolgen, wenn diese überwunden bzw. nicht einschlägig sind.453 Gerade die Unterscheidung zwischen „eigenen“ und „fremden“ Informationen in den §§ 7ff. TMG und die Prüfung von privilegierungsausschließenden Merkmalen in den §§ 8ff. TMG stellt die Weichen dahingehend, ob eine Verantwortlichkeit des Diensteanbieters nach den allgemeinen Gesetzen in Betracht kommt oder nicht.
c. Prüfungseffizienz
Gegen eine Einordnung der Haftungsprivilegierungen als Nachfilter spricht zudem die Prüfungseffizienz. Denn bei Annahme eines Nachfilters wäre zunächst die Haftungsnorm in Gänze zu prüfen und eine Haftung des Diensteanbieters festzustellen, um diese sodann bei Bejahung der Voraussetzungen einer Haftungsprivilegierung im Nachhinein wieder entfallen zu lassen.
d. Horizontale, querschnittartige und rechtsgebietsübergreifende Regelungen
Die hier vertretene Qualifizierung als Vorfilter trägt auch dem Ansinnen des Gesetzgebers Rechnung, der die §§ 8ff. TMG als horizontale, querschnittartige und damit rechtsgebietsübergreifende Regelungen geschaffen hat. Diesem Ansinnen wird allein eine Einordnung als Filter gerecht, dessen Voraussetzungen selbstständig und unabhängig von den konkreten Voraussetzungen der Haftungsnorm zu prüfen sind.454 Denn die jeweiligen Besonderheiten der verschiedenen Rechtsgebiete und deren Haftungsmaßstäbe bleiben durch diese Einordnung unberührt.455 Nach Überwindung des Vorfilters richtet sich die Verantwortlichkeit nämlich allein nach den allgemeinen Haftungsregelungen des einschlägigen Rechtsgebiets. Deshalb ist auch eine Modifizierung einzelner Tatbestandsmerkmale durch die §§ 8 bis 10 TMG abzulehnen.
e. Mögliche Doppelprüfung
Sofern es durch die Einordnung als außertatbestandlicher Vorfilter zu einer doppelten Prüfung von einzelnen Tatbestandsmerkmalen kommt,456 ist dies kein gewichtiges Argument für eine andere dogmatische Einordnung der Haftungsprivilegierungen. Zum einen kann im Falle einer tatsächlichen doppelten Prüfung auf die bereits erfolgte Prüfung verwiesen werden, sodass keine Ineffizienzen drohen. Zum anderen wäre die doppelte Prüfung der vereinfachten, rechtsgebietsübergreifenden Anwendung geschuldet und ist daher hinzunehmen. Nur die getrennte Prüfung von Haftungsprivilegierung und Haftungsnorm, wie sie bei der Einordnung als unabhängiger Vorfilter erfolgt, kann dem gesetzgeberischen Willen einer „umfassenden Haftungsprivilegierung gerecht“ werden.457 Sie dient damit vor allem auch der „Rechtseinheit, -klarheit und -sicherheit“,458 da mit der zweigeteilten Prüfung außerhalb des Tatbestandes und vorgezogen vor die allgemeine Haftungsprüfung eine rechtsgebietsübergreifende gleichartige Prüfung gesichert ist. Damit ist sie vor allem auch prüfungsökonomisch effektiv.459
f. Positive Tätigkeiten der Diensteanbieter
Nach der Konzeption der §§ 8 bis 10 TMG sind „die privilegierten Tätigkeiten von vornherein positiv zu bewerten“ und „gerade nicht – wie es ja bei der Bejahung des Tatbestands einer Haftungsnorm der Fall wäre – grds. verboten“, aber durch die Privilegierung ausnahmsweise erlaubt.460 Diese Erwägung steht jedenfalls einer Qualifizierung als Nachfilter, Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und Strafausschließungsgrund entgegen. Denn diesen ist gemein, dass zunächst die haftungs- bzw. strafrechtliche Tatbestandsmäßigkeit der Tätigkeit festgestellt wird, bevor die Haftung aufgrund der Privilegierung des TMG entfällt. Sofern dem entgegengehalten wird, dass die Qualifikation als außertatbestandlicher Vorfilter dazu führt, dass der Tatbestand „nicht mehr nur typisches Unrecht beschreibt, sondern auch rechtmäßiges Verhalten erfasst“,461 überzeugt dies nicht. Die Haftungsprivilegierungen stellen gerade keine Rechtfertigungsgründe dar (dazu sogleich j.). Das Verhalten als solches bleibt unrechtmäßig. Der Diensteanbieter kann jedoch für dieses unrechtmäßige Verhalten unter bestimmten Voraussetzungen – aufgrund einer Wertungsentscheidung des Gesetzgebers – nicht zur Verantwortung gezogen werden.
g. Kein dogmatischer Bruch
Soweit der Einordnung der Haftungsprivilegierungen als außerhalb der Haftungsnorm zu prüfende Vorfilter ein dogmatischer Bruch oder Rückschritt vorgeworfen wird, der zu einer Vielzahl von Problemen, insb. bezüglich der Irrtümer, führe,462 überzeugt dies ebenfalls nicht. Ein dogmatischer Rückschritt ist schon deshalb nicht gegeben, da auch im Rahmen der strafrechtlichen Versuchsprüfung eine sog. Vorprüfung stattfindet,463 in welcher zunächst die Strafbarkeit des Versuchs und die Nichtvollendung des Tatbestands festgestellt werden.464 Die Haftungsprivilegierungen sind zudem insoweit auch mit den Strafanwendungsregelungen der §§ 3ff. StGB vergleichbar, die ebenfalls nicht zum gesetzlichen Tatbestand gehören und damit im Ergebnis vor diesem zu prüfen sind.465
h. Kein tatbestandsintegrierter Filter
Hingegen würde eine Qualifizierung als tatbestandsintegrierter Filter, der innerhalb des Tatbestands der Haftungsnorm, aber unabhängig von deren Tatbestandsvoraussetzungen zu prüfen ist, eine neue Prüfungskategorie schaffen. Die sog. verhaltensnormintegrierte bzw. tatbestandsintegrierte Vorfilterlösung ist deshalb abzulehnen.466
Gegen eine solche Einfügung in die Haftungsnorm spricht auch, dass die Tatbestände des materiellen Strafrechts und Ordnungswidrigkeitenrechts grundsätzlich keinen Verweis – ähnlich einer Blankettnorm – beinhalten, der eine Prüfung der Haftungsprivilegierungen des TMG nahelegt.467 Sofern in diesem Zusammenhang zum Teil eine Prüfung im Rahmen der objektiven Zurechnung angenommen wird,468 ist diese bereits deshalb ungeeignet zu einer einheitlichen Prüfung bzw. Anwendung der Haftungsprivilegierungen zu führen, da die abstrakten und abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte nach strittiger, aber h.M. grundsätzlich keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg besitzen.469 Die Prüfung der objektiven Zurechnung eines tatbestandlichen Erfolgs scheidet deshalb, folgt man der h.M., bei diesen Delikten aus.470 Denn der Erfolg ist nach der Lehre von der objektiven Zurechnung nur dann zurechenbar, wenn ein menschliches Verhalten zu einer rechtlich missbilligten Gefahr geführt und sich diese Gefahr gerade im tatbestandlichen Erfolg realisiert hat.471 Demgegenüber bestrafen die abstrakten und abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte gerade ein Verhalten, das die Entstehung einer durch