Die straf- und bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit der Diensteanbieter sozialer Netzwerke im Internet. Timo Handel
Auslegung vertreten, welche die Verantwortlichkeit auf ein „Einstehenmüssen für jedes Verhalten, das einen Haftungsanspruch auslöst“, also auch auf eine verschuldensunabhängige Haftung, erweitert.370 Die Verantwortlichkeit ist demnach ein Einstehenmüssen für jegliche Rechtsverletzungen.371 Für das Strafrecht ist diese Erweiterung jedoch unerheblich, da eine Bestrafung stets Schuld voraussetzt.
366 Bleisteiner, Rechtliche Verantwortlichkeit im Internet, S. 158. 367 Ritz, Inhalteverantwortlichkeit von Online-Diensten, S. 69, zu § 5 TDG 1997. 368 Altenhain, in: MüKo StGB, TMG Vor § 7 Rn. 3; Heß, Die Verantwortlichkeit von Diensteanbietern, S. 33. 369 BT-Drucks. 13/7385, S. 19. 370 Jandt, in: Roßnagel, Recht der Telemediendienste, TMG § 7 Rn. 24; Spindler, in: Spindler/Schmitz, Telemediengesetz, TMG Vor § 7 Rn. 20; vgl. auch Hoffmann/Volkmann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, TMG Vor § 7 TMG Rn. 24. 371 Vgl. Rath, AfP 2005, 324.
E. Anwendbarkeit der Haftungsprivilegierungen im Strafrecht
Im Hinblick auf Erwägungsgrund 8 der ECRL stellt sich die Frage, ob die verantwortlichkeitsregelnden Haftungsprivilegierungen der §§ 8ff. TMG auch im Strafrecht Anwendung finden, da mit der ECRL der Bereich des Strafrechts als solcher nicht harmonisiert werden soll.
Trotz dessen ist die Anwendbarkeit der Haftungsprivilegierungen im Strafrecht mit der allgemeinen Meinung zu bejahen.372 Denn der Gesetzgeber wollte zum einen die Haftung der Diensteanbieter rechtsgebietsübergreifend und gerade auch im Strafrecht einschränken.373 Zum anderen bezwecken die Art. 12ff. ECRL eine umfassende Privilegierung, in deren Rahmen die strafrechtliche Privilegierung zumindest eine erwünschte Nebenfolge darstellt.374 Dem steht Erwägungsgrund 8 der ECRL nicht entgegen.375 Aus dessen Formulierung „als solchen“ folgt allein, dass mit der ECRL keine speziellen Regelungen für das Strafrecht geschaffen werden sollen.376 Es handelt sich daher lediglich um einen klarstellenden Hinweis.377
Zudem folgt aus Erwägungsgrund 26 der ECRL, dass die Mitgliedstaaten ihre nationalen strafrechtlichen Vorschriften und Strafprozessvorschriften nur im Einklang mit den in der ECRL festgelegten Bedingungen anwenden können. Aus der Formulierung „im Einklang“ ist zu folgern, dass die Haftungsregelungen der ECRL zwingend zu berücksichtigen sind und damit nach den europäischen Vorgaben auch im Strafrecht Anwendung finden. Demgegenüber vertritt Busse-Muskala, dass die Umsetzung der Haftungsprivilegierungen der ECRL über die Vorgaben der Richtlinie hinausgehen und – „aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht prinzipiell unbedenklich“ – auch das Strafrecht erfassen, obwohl dies zur Richtlinienumsetzung gar nicht geboten wäre.378
Eine Nichtanwendung der Vorschriften im Strafrecht würde zudem zu eklatanten Widersprüchen und „abstrusen Konsequenzen“ führen, da mit dieser im Bereich des Strafrechts eine faktische Kontrollpflicht bestehen würde, die zivilrechtlich durch § 7 Abs. 2 TMG ausgeschlossen ist.379
Die Geltung der Haftungsprivilegierungen für alle Rechtsgebiete, also auch das Strafrecht, ergibt sich letztlich auch aus dem Begriff der „Verantwortlichkeit“, der – wie bereits gezeigt380 – eine Rechtsgebietsübergreifende Formulierung darstellt und als Oberbegriff der „rechtsgebietsspezifischen Begriffe ‚strafbar‘ oder ‚haftet‘ gewählt wurde“ und damit „jede Art des rechtlichen Einstehenmüssens“ erfasst.381
Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die Haftungsprivilegierungen der §§ 8ff. TMG „rechtsgebietsübergreifende Querschnittsregelungen“ darstellen, die eine „horizontale Wirkung“ entfalten und in allen Rechtsgebieten gleichermaßen, also auch im Strafrecht gelten.382
372 Statt vieler KG Berlin, MMR 2015, 345, 346, m.w.N. und BGH, ZUM-RD 2012, 82, 84. 373 BT-Drucks. 14/6098, S. 23 bzgl. der Vorgängernorm § 11 TDG; ebenso bereits BT-Drucks. 13/7385, S. 51 in Bezug auf § 5 TDG 1997. 374 Hoffmann/Volkmann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, TMG Vor § 7 Rn. 15; vgl. auch Detlefsen, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 60; Spindler, MMR-Beilage 7/2000, S. 16; Brisch, CR 1999, 235, 241. 375 Vgl. auch Spindler, MMR-Beilage 7/2000, S. 16, wonach „das Risiko der strafrechtlichen Verfolgung insbesondere von Service Providern [...] stets im Mittelpunkt der Diskussion um deren Verantwortlichkeit“ stand. 376 Altenhain, in: MüKo StGB, TMG Vor § 7 Rn. 2; Hoffmann/Volkmann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, TMG Vor § 7 Rn. 15. 377 Paal, in: Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, TMG § 7 Rn. 9. 378 Busse-Muskala, Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Informationsvermittler, S. 162, 165 und 169. 379 Hassemer, NJW 2014, 3801. 380 Siehe Kapitel 3 D. 381 Bettinger/Freytag, CR 1998, 545, 546. 382 Frey/Rudolph/Oster, CR Beilage zu Heft 11/2015, S. 6; vgl. auch Paal, in: Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, TMG § 7 Vor Rn. 1; Sieber, MMR-Beilage 2/1999, S. 3; Spindler, NJW 2002, 921, 922; Freytag, CR 2000, 600, 604, im Hinblick auf die ECRL.
F. Prüfungsstandort und dogmatische Einordnung der Haftungsprivilegierungen des TMG
Der Prüfungsstandort und die dogmatische Einordnung der Haftungsprivilegierungen der §§ 8ff. TMG sind umstritten.383 Mit der Einstufung als außerhalb und unabhängig von der Haftungsnorm zu prüfender Vor- (siehe I. 1.) bzw. Nachfilter (siehe I. 2.) und einem tatbestandsintegrierten Filter (siehe I. 3.) werden zweistufige Modelle und mit einer Modifizierung des Tatbestands (siehe II. 1.), des Vorsatzerfordernisses (siehe II. 2.) sowie der Qualifizierung als Rechtfertigungsgrund (siehe II. 3.), Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgrund (siehe II. 4.), aber auch persönlichen Strafausschließungsgrund (siehe II. 5.) einstufige Modelle vertreten. Dabei wird hinsichtlich der Relevanz der Einordnung ausgeführt, dass diese vor allem für die strafrechtliche Teilnahme und Irrtümer von Bedeutung sei.384 Aber auch die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Analogieverbots des Art. 103 Abs. 2 GG wird für eine Einordnung auf Tatbestandsebene herangezogen.385 Die dogmatische Einordnung gewinnt im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit insbesondere bei der Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale an Relevanz und hat deshalb für die Reichweite der Haftungsprivilegierungen Bedeutung.
I. Die zweistufigen Modelle
Die sog. zweistufigen Modelle, welche die Haftungsprivilegierungen als Vor- bzw. Nachfilter einordnen, stimmen darin überein, dass die §§ 8ff. TMG und die allgemeinen Haftungsvorschriften getrennt voneinander zu prüfen sind.386
1. Eigenständiger Vorfilter
Zunächst findet sich die Auffassung387, dass die Haftungsprivilegierungen des TMG eine Vorfilter-Funktion haben und dementsprechend eigenständig vor dem jeweiligen Haftungstatbestand zu prüfen sind. Es handelt sich danach um eine zweistufige Prüfung, die bei Vorliegen der Privilegierung eine weitere Prüfung des Haftungs- bzw. Straftat- und Bußgeldtatbestandes entbehrlich macht.388 Begründet