Die straf- und bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit der Diensteanbieter sozialer Netzwerke im Internet. Timo Handel
unterlaufen würde. Die Nichtaufnahme des Strafrechts und Ordnungswidrigkeitenrechts in den Anhang zur ECRL macht deutlich, dass der europäische Richtliniengeber keine generelle Bereichsausnahme für diese Bereiche wollte. Würde man nun aber stets eine Beeinträchtigung bzw. qualifizierte Gefahr annehmen, wenn ein Tatbestand aus einem dieser Bereiche erfüllt ist, würde damit faktisch eine generelle Bereichsausnahme geschaffen. Denn vom Vorliegen einer Beeinträchtigung bzw. qualifizierten Gefahr hin zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist es dann kein weiter Weg mehr.304
2. Beeinträchtigung oder qualifizierte Gefahr
Für das Vorliegen der Ausnahme ist zunächst eine Beeinträchtigung oder eine qualifizierte Gefahr erforderlich.
Eine Gefahr ist bei einem Zustand zu bejahen, der bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für das geschützte Rechtsgut führt.305 Die Gefahr muss ernsthaft und schwerwiegend, also qualifiziert, sein. Eine einfache Gefahr genügt nicht.306 Nicht ausreichend ist deshalb das Bestehen der abstrakten Möglichkeit einer Gefahr. Bei abstrakten Gefährdungsdelikten, die nicht den Eintritt einer Gefahr voraussetzen, ist es deshalb erforderlich, dass die Maßnahme im „Einzelfall der Bekämpfung einer konkreten Gefahr dient“.307 Das Gleiche muss für abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte gelten.
Eine Beeinträchtigung liegt immer dann vor, wenn sich die Gefahr realisiert hat und damit eine Störung bzw. ein Schaden für das geschützte Rechtsgut eingetreten ist. Dies ist immer dann zu bejahen, wenn der Tatbestand eines Erfolgsdelikts vollendet ist oder sich die Gefahr eines Gefährdungsdelikts realisiert hat.308 In Bezug auf die Gefahren, die der Verbreitung von Hassbotschaften innewohnen, ist regelmäßig von einer qualifizierten Gefahr auszugehen, wenn die Inhalte tatsächlich abgerufen und wahrgenommen werden.
3. Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG
Die Maßnahme, für die die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip gelten soll, muss im Einzelfall verhältnismäßig sein (vgl. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG).309 Innerhalb der deshalb vorzunehmenden Angemessenheitsprüfung genießen die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zum Zwecke des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Verunglimpfung aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen wegen der ausdrücklichen Nennung in § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. a, aa TMG einen Abwägungsvorsprung.310 Dass diesen Schutzgütern ein besonderer Stellenwert zukommt, ergibt sich auch aus ihrer Nennung in Art. 3 Abs. 4 lit. a Nr. i ECRL und der damit einhergehenden gemeinschaftsrechtlichen Wertung.311 Bestätigt wird dies durch Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. i und ii AVMD-RL. Danach darf audiovisuelle kommerzielle Kommunikation nicht die Menschenwürde verletzen und ebenfalls nicht eine Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Herkunft, Staatsangehörigkeit, Religion oder Glauben, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung beinhalten oder fördern.
Auch wenn als schlechthin konstituierendes Grundrecht für eine freiheitlich demokratische Grundordnung im Rahmen der Abwägung die Meinungsfreiheit i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG und Art. 10 Abs. 1 EMRK in besonderer Weise zu berücksichtigen ist, ist wegen des erwähnten Abwägungsvorsprungs davon auszugehen, dass Maßnahmen zur Bekämpfung von Hassbotschaften in der Regel verhältnismäßig sind.312
4. Konsultations- und Informationspflichten
§ 3 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 TMG bestimmt, dass die Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip nach § 3 Abs. 5 Satz 1 TMG nur zulässig sind, wenn die gemäß Art. 3 Abs. 4 lit. b und Abs. 5 ECRL erforderlichen Verfahren, also Konsultations- und Informationspflichten, eingehalten werden. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 TMG bleiben davon jedoch gerichtliche Verfahren einschließlich etwaiger Vorverfahren und die Verfolgung von Straftaten einschließlich der Strafvollstreckung und von Ordnungswidrigkeiten unberührt. Mithin sind die Konsultations- und Informationspflichten dem TMG zufolge in diesen Verfahren nicht einzuhalten.
Grundsätzlich hat der Mitgliedstaat gem. Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL vor Ergreifen der betreffenden Maßnahmen unbeschadet etwaiger Gerichtsverfahren, einschließlich Vorverfahren und Schritten im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung, den Mitgliedstaat, in dem der Diensteanbieter seine Niederlassung hat, und die Europäische Kommission zu konsultieren und informieren. Anders als in der deutschen Umsetzung sind Strafverfahren von dieser Pflicht nicht ausgenommen, denn die Formulierung „unbeschadet“ bedeutet nicht „mit Ausnahme von“, sondern „ohne Rücksicht auf“ und „ohne Schaden, ohne Nachteil für“.313 Noch deutlicher wird die englische Sprachfassung der ECRL, die ausführt, dass die Konsultations- und Informationspflichten „without prejudice to court proceedings [...]“ vorzunehmen sind.
Allerdings sieht Art. 3 Abs. 5 Satz 1 ECRL die Möglichkeit einer Abweichung von den in Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL genannten Pflichten in dringlichen Fällen vor, wobei die Dringlichkeit nachzuweisen ist.314 Die Mitgliedstaaten werden in dringlichen Fällen aber nicht völlig von den Pflichten entbunden. Vielmehr müssen sie die Maßnahmen und die Gründe für die Annahme eines dringlichen Falls so bald wie möglich der Kommission und dem Niederlassungsstaat mitteilen (Art. 3 Abs. 5 Satz 2 ECRL).315
Im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens nach Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL wird man bei der Notwendigkeit eines Straf- und Bußgeldverfahrens regelmäßig von einem dringlichen Fall ausgehen können. Spätestens mit Beendigung des Verfahrens ist sodann aber die Mitteilung nach Art. 3 Abs. 5 Satz 2 ECRL vorzunehmen.316 Da § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG eine solche Pflicht nicht enthält, liegt damit ein Verstoß gegen die Vorgaben der ECRL vor, der durch eine richtlinienkonforme Auslegung zu beseitigen ist. Danach gilt der Ausschluss des § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG nicht für die Mitteilung an die Kommission und den Niederlassungsstaat nach Beendigung des Strafverfahrens.317
IV. Ergebnis zum Herkunftslandprinzip (§ 3 TMG)
Das Herkunftslandprinzip des § 3 TMG bzw. Art. 3 ECRL ist grundsätzlich auf das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht anwendbar. Auf Diensteanbieter sozialer Netzwerke findet es Anwendung, sofern es sich nicht um solche aus einem Drittstaat bzw. dem Nicht-EU-Ausland handelt. Es schließt eine Anwendung des deutschen Rechts jedoch nicht aus, wenn die Handlung, also das Unterlassen des Entfernens bzw. Sperrens des strafbaren Inhalts im EU-Herkunftsland ebenfalls sanktioniert ist, da dann bereits keine Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs vorliegt. Aber selbst, wenn eine solche Einschränkung gegeben ist, kann eine Anwendung des Herkunftslandprinzips im Einzelfall ausnahmsweise ausscheiden. Bei der Verbreitung von Hassbotschaften in sozialen Netzwerken wird vom Vorliegen einer solchen Ausnahme in der Regel auszugehen sein, da mit dieser regelmäßig eine qualifizierte Gefahr vorliegt und Maßnahmen der Verfolgung und Ahndung als verhältnismäßig zu betrachten sind.
272 Altenhain, in: MüKo StGB, TMG § 3 Rn. 3. 273 Bär, in: Wabnitz/Janovsky/Schmitt, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Kap. 15 Rn. 205. 274 Spindler, NJW 2002, 921, 926; Spindler, in: Spindler/Schmitz, Telemediengesetz, TMG § 3 Rn. 70.; vgl. auch Kudlich, HRRS 2004, 278, 282. 275 Vgl. Döpkens, in: Raue/Hegemann, MAH Urheber- und Medienrecht, § 30 Rn. 16. 276 Gutsche, Die Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie, S. 14. 277 Siehe hierzu Kapitel 1 A.I.2. 278 So auch Erwägungsgrund 58 der ECRL. 279 Altenhain, in: MüKo StGB, TMG § 3 Rn. 11. 280 BT-Drucks.