Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
Das in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV normierte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ist für das Wirken der Kirchen in Deutschland von herausragender Bedeutung und schafft die Grundlage zur Erfüllung ihres Auftrags in der Welt. Danach „ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Diese Garantie fungiert als Vervollkommnung des Verbots der Staatskirche und zieht die Konsequenzen aus dem Strukturprinzip der Neutralität.306 Durch die Freiheit der Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten wird die Unabhängigkeit der Kirche von staatlicher Einflussnahme untermauert. Daher hat Johannes Heckel Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV in einer vielbeachteten Abhandlung als „lex regia“307 des deutschen Staatskirchenrechts bezeichnet.
Da jenes Selbstbestimmungsrecht zudem die wesentliche Quelle ist, aus der sich das deutsche kirchliche Arbeitsrecht speist, bedarf es einer vertiefteren Begutachtung.
(1) Dogmatische Grundlagen
Wegen der engen inhaltlichen Nähe des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zur korporativen Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist die systematische Frage des Verhältnisses beider Normen zueinander umstritten. Denn nach übereinstimmender Ansicht umfasst der sachliche Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG in seiner gebotenen extensiven Auslegung bereits das gesamte Leben und Wirken der Kirchen und somit zumindest die Essenz des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 137 Abs. 3 WRV.308 Ein Teil des Schrifttums geht aber von einer vollständigen Schutzbereichsüberschneidung aus und degradiert Art. 137 Abs. 3 WRV auf diese Weise zu einer bereits in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltenen Teilmenge.309
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Ansicht in der Literatur hat das Selbstbestimmungsrecht jedoch einen eigenständigen Regelungsgehalt gegenüber der korporativen Religionsfreiheit.310 Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass sich die Schutzbereiche erheblich überschneiden. Das Selbstbestimmungsrecht enthält aber „eine notwendige, wenngleich rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt.“311 Diese Ansicht wird der systematischen Einordnung der unabhängig voneinander gewährten Garantien gerecht. Der eigenständige Schutzbereich des Art. 137 Abs. 3 WRV erweitert Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG um den dezidierten Schutz sämtlicher organisatorischer Aspekte des Wirkens der Kirchen, wie bspw. ihre Grundstücks- oder Vermögensverwaltung. Abstrakt lassen sich dieser Komponente all jene Aufgaben zuordnen, die nicht unmittelbar zur Erfüllung des religiösen Auftrags, aber zu dessen Vorbereitung und Unterstützung wahrgenommen werden.312 Gerade dies betrifft die Regelung von Arbeitsverhältnissen zur Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags. Die Fragen, auf welcher Grundlage Beschäftigungsverhältnisse abgeschlossen werden, welchen Inhalt sie haben und in welcher Weise der kirchliche Betrieb zu ordnen ist, sind nicht unmittelbarer Vollzug der von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützten Freiheit des Glaubens und Bekennens. Es kann damit konstatiert werden, dass das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV den Kirchen umfangreichere Freiheiten als die ihnen zustehende korporative Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG gewährt.313 Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bietet daher dort eine notwendige Ergänzung zu Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, wo die Organisation, Verwaltung und Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten nach ihrem Verständnis keine Religionsausübung im engeren Sinne darstellt.
Letztlich kann der Meinungsstreit zur Schutzbereichsabgrenzung aber nur zur Schärfung des Verständnisses von der Einordnung des Selbstbestimmungsrechts dienen, weist er doch kaum praktische Relevanz auf. Zwar bedingt die Zuordnung des institutionellen Selbstbestimmungsrechts zum jeweiligen Schutzbereich die Bestimmung der einschlägigen Schranke, die bei einer Anwendung von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG lediglich verfassungsimmanente Güter umfassen würde. Aber auch wenn man das Selbstbestimmungsrecht als vollständig in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthalten ansähe, würde bei dessen Inanspruchnahme ohnehin die Schranke des „für alle geltenden Gesetzes“ aus Art. 137 Abs. 3 WRV Anwendung finden. Denn das Bundesverfassungsgericht stellt für diesen Fall der sogenannten Schrankenspezialität fest, dass Art. 137 Abs. 3 WRV als speziellere Norm Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG bei Überschneidung der beiden Schutzbereiche vorgehe.314 In ständiger Rechtsprechung berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht dann aber bei dem Ausgleich gegenläufiger Interessen im Rahmen von Art. 137 Abs. 3 WRV, dass die korporative Religionsfreiheit zugunsten der Kirchen ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist und misst dem Selbstverständnis der Kirchen ein besonders hohes Gewicht zu.315 Dieser Umstand stärkt die Rechtsstellung der Kirchen erheblich.
Schließlich kann auch trotz der fehlenden (formellen) Grundrechtsqualität des Art. 137 Abs. 3 WRV eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts prozessual mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden.316 Da das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen zumindest in seinem Kernbereich auch durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützt ist, kann auf den Schultern des Grundrechts der Religionsfreiheit die Hürde der Zulässigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 GG überwunden werden.317 Dann ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Prüfungskompetenz hinsichtlich sämtlichen Verfassungsrechts – und damit auch Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV – innerhalb der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde eröffnet.318
(2) Schutzbereich
Da die institutionelle Garantie des Selbstbestimmungsrechts aus Art. 137 Abs. 3 WRV materiell wie ein Freiheitsrecht zu verstehen ist, lässt sie sich in der dafür üblichen Struktur eines persönlichen („Religionsgesellschaften“) und sachlichen („Ordnen und Verwalten eigener Angelegenheiten“) Schutzbereichs, sowie einer Schranke („für alle geltendes Gesetz“) begreifen.319
(a) Die Kirchen und ihre Einrichtungen als Träger des Selbstbestimmungsrechts
Der persönliche Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts erstreckt sich nach dem Wortlaut von Art. 137 Abs. 3 WRV auf die „Religionsgesellschaften“320. Damit ist eine Vereinigung von Menschen gemeint, die in einem bestimmten Gebiet gemeinsam einer religiösen Überzeugung nachgehen.321 Dazu zählen ohne Zweifel die verfassten Kirchen.322
Werden bereits alle Religionsgemeinschaften unabhängig von ihrem rechtlichen Status in den Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts einbezogen,323 so nehmen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darüber hinaus auch die rechtlich selbständigen Untergliederungen der Kirchen an jenem Schutz teil. Danach sind auch „alle der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform (erfasst), (…) wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis, ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in dieser Welt wahrzunehmen und zu erfüllen“.324 Dem Schutzbereich zugeordnet werden kann eine Einrichtung aber nicht, wenn sie ganz überwiegend der Gewinnerzielung dient, da sie dann keinen ausreichenden Zusammenhang zum glaubensdefinierten Selbstverständnis aufweist.325 Die Mitwirkung von Laien an der Verwaltung steht der Zuordnung einer verselbständigten Einrichtung zur Kirche aber nicht entgegen.326 Diesem Ansatz ist die Literatur ganz überwiegend gefolgt.327 Neben der Teilhabe an der Verwirklichung eines kirchlichen Auftrages hat das Bundesverfassungsgericht in seiner weiteren Rechtsprechung auch noch einen Einklang der Einrichtung mit der verfassten Kirche und eine besondere Verbindung mit ihren Amtsträgern und Organwaltern gefordert.328 Die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts durch eine rechtlich verselbständigte Einrichtung erfordert damit im Wesentlichen zweierlei: Die Erfüllung einer kirchlichen Grundfunktion sowie eine ausreichende Verbindung mit der verfassten Kirche.329 Einer besonderen Verbindung bedarf es schon deshalb, weil die Herleitung des kirchlichen Rechts eines Bindegliedes bedarf. Die rechtlich verselbständigten Einrichtungen können nur derivativ von der Kirchenautonomie Gebrauch machen.
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