Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
Denn könnten sich ausschließlich die verfassten Kirchen selbst zu den nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV Berechtigten zählen, wäre ein auf dieser Grundlage modifiziertes Arbeitsrecht für die zahlreichen rechtlich verselbständigten karitativen und diakonischen Träger in der Gestalt von Krankenhäusern, Kindergärten und Pflegeeinrichtungen bereits aus diesem Grunde ausgeschlossen. Der Anwendungsbereich kirchlichen Arbeitsrechts wäre auf ein Minimum dezimiert. Die verfassten Kirchen selbst treten als Arbeitgeber nämlich nur numerisch untergeordnet in Erscheinung.330
Insbesondere im Kontext der betrieblichen Mitbestimmung sind vom BAG im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spezifischere Ausführungen zu den Anforderungen einer Zuordnung der autonomen Rechtsträger an die jeweilige Kirche gemacht worden.331
(b) Ordnen und Verwalten
Das selbständige Ordnen umfasst die Rechtsetzungstätigkeiten der Kirchen, die Verwaltung in einem weiten Sinne die Vollzugsmaßnahmen zur Verwirklichung ihrer Aufgaben.332 Dies beinhaltet auch die Einwirkung auf den Bereich außerhalb des kirchlichen Rechtskreises.333 Die Beschäftigung von Arbeitnehmern unterfällt somit dem Feld des Verwaltens, die Aufstellung von einheitlichen Regelungen für Arbeitsverhältnisse der Ordnung.334
(c) Die eigenen Angelegenheiten
Damit ist aber die entscheidende Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs des Selbstbestimmungsrechts noch nicht vorgenommen. Nicht jegliche Ordnung und Verwaltung per se ist geschützt, die entsprechenden Tätigkeiten müssen auch im Bereich der eigenen Angelegenheiten der Kirchen anzusiedeln sein. Jene Zuordnung betrifft die wegen ihrer Grundsätzlichkeit stets umstrittene Abgrenzungsfrage zwischen weltlichem und kirchlichem Bereich. Jene Bereichsbestimmung ist essentiell, definiert sie doch die Grundlage für die kirchliche Freiheit vor staatlicher Ingerenz. Ob die Kirchen diese Definition autonom mit weltlicher Verbindlichkeit vornehmen dürfen, ist in der Literatur umstritten;335 das Bundesverfassungsgericht legt für die Bestimmung der eigenen Angelegenheiten das Selbstverständnis der Kirchen zugrunde.336 Dabei vermag allein diese Herangehensweise zu überzeugen, denn dem Staat ist die Bewertung religiöser Sachverhalte schon zur Wahrung des Neutralitätsgebotes untersagt. Eine staatliche Definition kirchlicher Angelegenheiten könnte ohne eine solche Bewertung aber nicht erfolgen. Der Staat weiß nicht, „was religiöse Heilssetzung heißt, er weiß nur, dass er es nicht weiß“.337 Ihm fehlt aufgrund seiner ausschließlich weltlichen Perspektive die Kompetenz zur Bestimmung von Glaubensinhalten. Zudem entscheidet die faktische Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 137 Abs. 3 WRV durch die Kirchen keineswegs final über die Reichweite ihrer Unabhängigkeit vor staatlichem Einfluss; denn ein etwaiger Konflikt zwischen staatlichem und kirchlichem Rechtskreis hat seine Auflösung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Schranke zu finden.338
Die Bestimmung des Selbstverständnisses erfolgt nach den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben.339 Jene vorgegebenen Maßstäbe unterliegen lediglich einer eingeschränkten richterlichen Plausibilitätskontrolle, bei der in Zweifelsfällen durch Auskunftseinholung bei den zuständigen Kirchenbehörden Klarheit zu verschaffen ist.340 Eine Limitierung des Schutzbereichs erfolgt nur insoweit, falls das Selbstverständnis der Kirchen gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung verstoßen sollte, die im allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), den guten Sitten (§ 138 Abs. 1 BGB) und dem ordre public (Art. 6 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden haben.341
(3) Schranke – Das „für alle geltende Gesetz“
Das Selbstbestimmungsrecht wird nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ gewährleistet. Dieser Gesetzesvorbehalt hat sowohl in der Weimarer Zeit als auch unter der Geltung des Grundgesetzes zahlreiche Interpretationsansätze durchlaufen. Die damit einhergehende schillernde Auseinandersetzung über die richtige Auslegung resultiert daraus, dass die Anwendung der Schranke final über die Reichweite kirchlicher Selbstbestimmung entscheidet, zumal die eigenen Angelegenheiten nach dem Selbstverständnis der Kirche bestimmt werden.342 Die sinnvariierende Formel343 des „für alle geltenden Gesetzes“ legt somit fest, wo sich eine staatliche Regelung gegenüber dem kirchlichen Selbstverständnis durchsetzt und wann sie ihm den Vorrang gewähren muss.
Nach dem in der Weimarer Republik vorherrschenden formalen Verständnis wurde die Schranke noch als besonders weitreichend begriffen: Nur die Kirchen einschränkende Sondergesetze seien nicht von der Schranke umfasst.344 Aus einer materiellen Perspektive schränkte Johannes Heckel die Reichweite aber auf die „für die Gesamtnation als politische Kultur- und Rechtsgemeinschaft unentbehrliche(n) Gesetz(e)“345 weiter ein. Dieser sogenannten „Heckel’schen Formel“ wurde zwar vielfach auch noch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik gefolgt,346 sie wird heute aber unter anderem wegen ihrer terminologischen Ungenauigkeit und der von der Grundgesetzsystematik abweichenden Freiheitsrechtskonzeption nicht mehr vertreten.347
Auch unter der Geltung des Grundgesetzes ist das Verbot von Sonderrecht gegen die Kirchen gemeinsames Fundament aller Auslegungsansätze über die Reichweite des Gesetzesvorbehalts.348 Da allein diese Beschränkung der besonderen Bedeutung des mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eng verknüpften Selbstbestimmungsrechts aber nicht gerecht werden kann, wurden auf einer zweiten Ebene verschiedene Modelle entwickelt, um die formale Begrenzung von einer materiellen zu flankieren. In diesem Zusammenhang ist als erste einflussreiche Theorie die sogenannte Bereichsscheidungslehre zu nennen, nach der zwischen einem inneren und äußeren Bereich der Angelegenheiten der Kirchen unterschieden wird.349 Der sodann bestimmte Innenbereich (forum internum – etwa der Kultusbereich oder das Amtsrecht) ist danach gegenüber staatlicher Einflussnahme unantastbar, der Außenbereich (forum externum) unterliegt hingegen einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Es spricht einiges dafür, diese Lehre als eine „getarnte“ Abwägungslehre zu verstehen, die ihre Gewichtung a priori definitorisch festlegt und damit eine situativ bezogene Argumentation vermeidet.350 Zudem wird das Problem der Schrankenbestimmung faktisch in eine erweiterte Schutzbereichsbestimmung vorverlagert. Dieser Vorgehensweise lässt sich aber das pragmatische Argument entgegenhalten, dass zwischen äußerem und innerem Bereich kirchlicher Angelegenheiten nicht trennscharf unterschieden werden kann.351 Überdies findet eine derartige Differenzierung keine Grundlage im Wortlaut des Art. 137 Abs. 3 WRV.352 Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht diesen Ansatz zunächst übernommen,353 ihn in einer wechselvollen Rechtsprechungsgeschichte später aber modifiziert und sich teilweise wieder von ihm abgewendet.354
So erfolgte eine erste Modifikation der Bereichsscheidungslehre durch die in BVerfGE 42, 312 geprägte „Jedermann-Formel“ insoweit, als dass die weite Einschränkbarkeit des kirchlichen Außenbereichs begrenzt wurde. Danach soll ein Gesetz dort keine Einschränkung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts bilden können, wo es die Kirche in ihrer Besonderheit als Kirche härter als den normalen Adressaten – ihr Selbstverständnis beschränkend – trifft.355 Dies geht über das Verbot von reinem Sonderrecht hinaus, da nicht nur die Intention des Gesetzgebers, sondern auch die materiellen Auswirkungen der Regelung bewertet werden.356 Durch die Beurteilung aus der subjektiven Perspektive kirchlichen Selbstverständnisses wird so aber letztlich die Bestimmung der Schranke den Kirchen überantwortet, da ihre Auffassung zugrunde zu legen ist, ob sie vom fraglichen Gesetz übermäßig eingeschränkt werden. Der Staat verlöre auf diese Weise seine Souveränität, was seine Funktion als Garant der verfassungsmäßigen Ordnung in einer säkularen Gesellschaft untergraben würde.357 Eine weitere Schwäche der Bereichsscheidungslehre zeigt sich überdies in der von ihr evozierten strikten Polarisierung der Einschränkbarkeit des Selbstbestimmungsrechts. Zwischen unbeschränkbarem forum internum und dem einem weiten allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterliegenden forum externum findet sich kein Mittelweg.
Diesem Dilemma begegnet das Bundesverfassungsgericht seit 1980 mit der Abwägungslehre,358