Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz

Kirchliches Arbeitsrecht in Europa - Florian Scholz


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Ausgangspunkt ist jedenfalls, dass grundsätzlich das staatliche Arbeitsrecht Anwendung findet, nämlich als schlichte Folge einer Rechtswahl.466 Die Kirchen haben daher grundsätzlich die arbeitsrechtlichen Regelungen aus §§ 611a ff. BGB und etwa das Kündigungsschutzrecht aus § 1 KSchG, § 626 BGB zu beachten.467

      Vereinzelt wird aber darüber hinaus gefolgert, die Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr versage es den Kirchen, spezifische Regelungen zur Wahrung des kirchlichen Proprium unter Rückgriff auf ihr Selbstbestimmungsrecht zu treffen.468 Als Begründung wird angeführt, die Kirchen überschritten durch Gebrauch des Privatrechts ihren Rechtskreis und könnten sich infolgedessen nicht mehr auf Art. 137 Abs. 3 WRV berufen.469 Damit würde aber die Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts – namentlich die Bestimmung der eigenen Angelegenheiten – in verfassungswidriger Weise verkürzt. Dieses muss von den Kirchen auch dann in Anspruch genommen werden können, wenn sie von der allgemeinen Vertragsfreiheit zum Abschluss von Arbeitsverhältnissen Gebrauch machen. Wegen des staatskirchenrechtlichen Neutralitätsgrundsatzes sind die Angelegenheiten der Kirchen nach deren Selbstverständnis zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher deutlich gemacht, dass die Einbeziehung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse in das staatliche Arbeitsrecht nicht etwa deren Zugehörigkeit zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen aufhebt.470 Diese Feststellung ist essentiell: Die Kompatibilität von privatrechtlich begründeten Beschäftigungsverhältnissen und kirchlichem Selbstbestimmungsrecht ist damit gewährleistet.

      cc) Synthese: Staatliches Recht modifiziert nach kirchlichem Selbstverständnis

      Auf dieser Grundlage ist es den Kirchen kraft ihres Selbstbestimmungsrechts auch unter Rückgriff auf die Privatautonomie ermöglicht, die „religiöse Dimension“ ihres Wirkens im Sinne ihres Selbstverständnisses durch entsprechende Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse sicherzustellen.471 Daraus folgt aber kein originäres kirchliches Arbeitsrecht, das von der staatlichen Rechtsordnung unabhängig ist.472 Vielmehr ist die Reichweite etwaiger Exemtionen und Modifikationen für jeden einzelnen Teilbereich des staatlichen Arbeitsrechts am Maßstab der verfassungsrechtlichen Grundlagen zu bestimmen. Zwar finden sich teilweise bereits auf Gesetzesebene verfassungsrechtlich gebotene Bereichsausnahmen zugunsten der Kirchen, wie etwa innerhalb der Mitbestimmungsordnungen oder in § 9 AGG. Doch in allen anderen Fällen ist die Möglichkeit einer Abweichung vom allgemeinen Arbeitsrecht an dem einschlägigen Schrankenvorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes“ zu messen.473 Dann stellt sich die Frage, ob eine bestimmte arbeitsrechtliche Regelung als ein solches Gesetz zu qualifizieren ist. Dabei ist die Bedeutung jener Norm für den sozialen Rechtsstaat unter Berücksichtigung der Arbeitnehmerrechte dem Erfordernis einer Abweichung von dieser aus Sicht des kirchlichen Selbstverständnisses gegenüberzustellen. Inwieweit innerhalb dieses Abwägungsvorgangs staatliches Arbeitsrecht durch die Kirchen zu einem kirchlichen Arbeitsrecht modifiziert werden kann, stellt sich – mit v. Campenhausen gesprochen – als eine diffizile Bereichsabgrenzung von staatlichem und kirchlichem Recht dar.474

      c) Geltungsbereich des kirchlichen Arbeitsrechts

      Eine abstrakte, einfachgesetzliche Abgrenzungsnorm zwischen dem Anwendungsbereich weltlichen und kirchlichen Arbeitsrechts existiert nicht. Nur in den Regelungen zur Reichweite der Mitbestimmungsordnungen (§ 118 Abs. 2 BetrVG, § 112 BPersVG) hat der Gesetzgeber die Trennlinie normativ gezogen. Dabei musste er sich an den verfassungsrechtlichen Anforderungen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts orientieren.475 Denn die Reichweite dessen Schutzbereichs bestimmt zugleich die Reichweite der Möglichkeit einer Modifikation des weltlichen Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich. Jene Regelungen können daher als pars pro toto476 für die Distinktion zwischen kirchlichem und weltlichem Arbeitsrecht insgesamt herangezogen werden.477

      d) Die kircheneigenen Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts

      Zur Etablierung einer einheitlichen Rechtsgrundlage für den kirchlichen Dienst sind sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche der häufig geäußerten Aufforderung478 nachgekommen, arbeitsrechtliche Regelungswerke zu erlassen. Damit füllen sie die ihnen durch das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht zuerkannten Freiheiten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts aus. Die Regelungen intendieren eine homogene Ausgestaltung des kirchlichen Selbstverständnisses anhand des Leitbilds der Dienstgemeinschaft.479 Als Kirchenrecht können die Regelungen allerdings grundsätzlich nicht unmittelbar Geltung für die kirchlichen Arbeitsverhältnisse entfalten; eine arbeitsvertragliche Bezugnahme ist daher erforderlich.480

      aa) Katholische Kirche

      Erstmalig erließ die Deutsche Bischofskonferenz eine rechtsverbindliche Regelung für den Dienst der katholischen Kirche am 22. September 1993.481 Seitdem besteht eine „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ (GrOkathK), zuletzt novelliert am 27. April 2015 durch die Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands.482 Sie bildet ein umfassendes Regelungswerk für das kirchliche Arbeitsrecht: Art. 3 bis 5 GrOkathK treffen die Grundentscheidungen auf dem Gebiet des Individualarbeitsrechts; Art. 6 und 7 GrOkathK regeln Fragen zur gewerkschaftlichen Betätigung und den sogenannten „Dritten Weg“. Art. 8 GrOkathK legt die Grundlage für die kircheneigene Mitarbeitervertretungsordnung MAVO und Art. 10 Abs. 2 GrOkathK gewährleistet kircheneigenen gerichtlichen Rechtsschutz.

      Die Grundordnung ist Kirchenrecht und von den Bischöfen aufgrund ihrer Gesetzgebungsbefugnis nach can. 391 CIC für ihre jeweilige Diözese erlassen.483 Sie gilt nach der (deklaratorischen) Regelung des Art. 2 Abs. 1 GrOkathK für die darin bezeichneten Rechtsträger, die der Gesetzgebungsgewalt des Bischofs unterliegen. Nach Art. 2 Abs. 2 GrOkathK werden aber auch diejenigen kirchlichen Rechtsträger, die dessen Gesetzgebungsgewalt nicht unterworfen sind, verpflichtet, die Grundordnung in ihren Statuten zu übernehmen.484 Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass die bischöfliche Gesetzgebungsgewalt nicht den gesamten Anwendungsbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts umfasst.485 Die Arbeitsverträge katholischer Rechtsträger enthalten eine dynamische Bezugnahmeklausel auf die Grundordnung.486

      bb) Evangelische Kirche

      Für die evangelische Kirche besteht eine der katholischen Grundordnung vergleichbare einheitliche Regelung für das gesamte kirchliche Arbeitsrecht nicht. Maßgeblich sind vielmehr verschiedene Rechtsquellen. Für den Bereich des Individualarbeitsrechts hat der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 9. Dezember 2016 die Richtlinie „über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie“ auf Grundlage487 des Art. 9 b) Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (GO-EKD) erlassen (Loyalitätsrichtlinie).488 Auf dem Gebiet des Kollektivarbeitsrechts wurden das Mitarbeitervertretungsgesetz (MVG-EKD)489 vom 12. November 2013 und das Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz (ARGG-EKD)490 vom 13. November 2013 erlassen.

      2. Individualarbeitsrecht

      Das kirchliche Individualarbeitsrecht weist insbesondere in Bezug auf die Personalauswahl, bei der Festlegung spezifischer Loyalitätsobliegenheiten und – damit verknüpft – innerhalb des Kündigungsrechts Besonderheiten auf. Die damit verbundenen Rechtsfragen werden in den nachfolgenden Darstellungen erörtert. Dabei ist vorauszuschicken, dass sich das Meinungsbild in diesem Bereich nach einer wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1985 zunächst gefestigt hatte. Nach der Jahrtausendwende flammte die rechtswissenschaftliche Debatte – maßgeblich bedingt durch europarechtliche Vorgaben in Gestalt der Antidiskriminierungs-Richtlinie 2000/78/EG und durch Rechtsprechung des EGMR zum deutschen kirchlichen Arbeitsrecht – wieder auf.


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