Klausurenkurs im Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht. Christoph Herrmann
als zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls kommt es allgemein darauf an, dass ein Belang in der Unionsrechtsordnung rechtlich Anerkennung gefunden hat, z.B. im Rahmen der Unionsgrundrechte o.ä.
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Hinweis:
Während die Dassonville-Formel i.V.m. der Cassis de Dijon-Formel (ebenso wie die Keck-Formel) speziell für die Warenverkehrsfreiheit konzipiert ist, findet auf die übrigen Grundfreiheiten, nämlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, die sogenannte Gebhard-Formel Anwendung.
Nach der vollständigen Gebhard-Formel ergibt sich „[a]us der Rechtsprechung des Gerichtshofes (…), dass nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (…).“
Daraus wird ersichtlich, dass die Gebhard-Formel nicht nur den grundfreiheitlichen Beschränkungsbegriff näher bestimmt, sondern darüber hinaus sowohl das den Grundfreiheiten innewohnende Diskriminierungsverbot als auch Rechtfertigungselemente nach dem Vorbild der Cassis de Dijon-Formel enthält.
bb) Heranziehung von (Unions-)Grundrechten im Rahmen der Rechtfertigung
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Regelmäßig erfolgt die Heranziehung von Grundrechten im Rahmen der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen im Zuge einer Abwägung des festgestellten Eingriffs mit den Unionsgrundrechten Dritter. Hintergrund ist, dass die aus den Unionsgrundrechten erwachsende Schutzplicht als eigenständige rechtfertigende Schranke dienen kann, die sodann eine Abwägung der Grundfreiheitausübung auf der einen und der Grundrechtsausübung auf der anderen Seite erfordert (siehe Fall 4, Rn. 310) und beide in einen schonenden Ausgleich zu bringen sind.[19] Zwar gehören die Unionsgrundrechte zu den zwingenden Interessen des Allgemeinwohls, stellen allerdings eine selbstständige Kategorie ungeschriebener Rechtfertigungsgründe dar (siehe Fall 7, Rn. 470 f.).[20]
Darüber hinaus greift der Gerichtshof allerdings auch auf mitgliedstaatliche Grundrechte zurück, um die geschriebenen Rechtfertigungsgründe, etwa denjenigen der öffentlichen Ordnung, zu konkretisieren.[21]
d) Die dogmatische Besonderheit des Art. 110 AEUV
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Art. 110 AEUV ergänzt das System der Warenverkehrsfreiheit im Bereich der internen fiskalischen Regulierung durch die Mitgliedstaaten. Die Vorschrift verbietet auf der Ebene der internen (steuerlichen) Regulierung als abgabenrechtliche lex specialis zum allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV jede diskriminierende (Abs. 1) oder protektionistische (Abs. 2) Besteuerung ausländischer Waren. Ausländische Waren dürfen folglich nach dem Marktzutritt nicht durch nationale Steuervorschriften gegenüber inländischen Waren diskriminiert werden. Damit verhindert Art. 110 AEUV insbesondere die Umgehung des Zollverbots gemäß Art. 28, 30 AEUV durch steuerliche Belastungen nach dem Marktzutritt einer Ware.[22] Die dogmatische Besonderheit des Art. 110 AEUV, die sich allerdings auch im Rahmen des Verbots von Zöllen und zollgleichen Abgaben gemäß Art. 30 AEUV wiederfindet, ist das Fehlen einer Rechtfertigungsmöglichkeit im Wortlaut der Vorschrift, der lediglich zwei Tatbestandvoraussetzungen enthält, nämlich im Falle des Abs. 1 die Gleichartigkeit der in- und ausländischen Waren sowie deren steuerliche Ungleichbehandlung durch einen Mitgliedsstaat bzw. im Falle des Abs. 2 ein Wettbewerbsverhältnis zwischen den in- und ausländischen Erzeugnissen sowie der Schutz konkurrierender inländischer Produktionen.
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Die Rechtsprechungswirklichkeit zeigt allerdings, dass der Gerichtshof die Dogmatik des Art. 110 AEUV stark weiterentwickelt hat und eine sogenannte „objektive Rechtfertigung“ prüft, indem er eine unterschiedliche Besteuerung erlaubt, sofern (1) die vorgenommene Differenzierung anhand objektiver Kriterien erfolgt, (2) die Verfolgung wirtschaftspolitischer Ziele, die mit denen des Unionsrechts korrespondieren, bezweckt ist und (3) keine diskriminierende bzw. protektionistische Wirkung vorliegt.[23] Mit dem Kriterium der legitimen wirtschaftspolitischen Ziele führt der Gerichtshofs faktisch eine immanente Rechtfertigungsmöglichkeit im Rahmen des Art. 110 AEUV ein, wobei er sich der Rechtfertigung jedoch nicht nach der Feststellung eines Eingriffs widmet, sondern vielmehr bereits im objektiven Tatbestand des Art. 110 AEUV mögliche Rechtfertigungsgründe bzw. (legitime) wirtschaftspolitische Ziele einschließlich deren Prüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einfließen lässt. Unter deren Prämisse untersucht der Gerichtshof, ob die mitgliedstaatliche Steuerregelung gleichartige bzw. konkurrierende in- und ausländische Erzeugnisse unterschiedlich bzw. in protektionistischer Weise besteuert. Dabei nutzt er die herausgearbeiteten Ziele als Leitlinie für die Feststellung einer Diskriminierung bzw. einer protektionistischen Schutzwirkung und nutzt diese positiv, soweit die wirtschaftspolitischen Ziele den Erfordernissen des Unionsrechts in verhältnismäßiger Weise entsprechen. Im Ergebnis kommt es tatbestandlich damit nicht zu einer Diskriminierung bzw. protektionistischen Schutzwirkung (siehe Fall 3, Rn. 209 ff.).[24]
II. Die Wettbewerbsordnung
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Die unionale Wettbewerbsordnung hat die Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs zum Ziel, was im Wesentlichen durch die primärrechtlich verankerten Kartell- und Beihilfevorschriften erreicht werden soll (siehe vor allem das Kartellverbot gemäß Art. 101 AEUV, das Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen gemäß Art. 102 AEUV und das Beihilfenverbot gemäß Art. 107 AEUV, die durch entsprechende Durchführungsverordnungen, insbesondere die Kartell-VerfO Verordnung (EG) Nr. 1/2003 und die Beihilfen-VerfO Verordnung (EU) Nr. 2015/1589 ergänzt werden). Hinzu kommt die ausschließlich sekundärrechtlich geregelte Fusionskontrolle (siehe insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 139/2004). Im Gegensatz zu den Grundfreiheiten, die grundsätzlich die Mitgliedstaaten adressieren, gelten die Wettbewerbsregeln der Art. 101, 102 AEUV in erster Linie für Unternehmen.
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In Bezug auf die wettbewerbsrechtlichen Tatbestände von Art. 101 Abs. 1, Art. 102 Abs. 1 und Art. 107 Abs. 1 AEUV sind auch die jeweiligen (nicht abschließenden) Regelbeispielkataloge (vgl. Art. 101 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a bis e AEUV und Art. 102 S. 2 lit. a bis d AEUV) bzw. Ausnahme- und Freistellungstatbestände (vgl. Art. 107 Abs. 2 lit. a bis c, Abs. 3 lit. a bis e AEUV) zu beachten, die teils Hilfestellung bei der tatbestandlichen Auslegung leisten können.
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Wesentliches Element der wettbewerbsrechtlichen Verbotsvorschriften Art. 101, 102 und 107 AEUV ist, dass das jeweilige Verhalten der beteiligten Unternehmen bzw. im Falle des Art. 107 Abs. 1 AEUV die staatliche Begünstigung eine spürbar wettbewerbsverfälschende Wirkung haben sowie den innerunionalen Handel spürbar beeinträchtigen muss. Eine solche Analyse erfordert zunächst die Abgrenzung des relevanten (Produkt-)Marktes, der sachlich durch das Wettbewerbsverhältnis der beteiligten bzw. betroffenen Unternehmen und konkurrierenden Marktteilnehmern, d.h. durch die Austauschbarkeit deren Produkte aus Sicht des Verbrauchers hinsichtlich der Eigenschaften, des Preises und des Verwendungszwecks, zu bestimmen ist. In räumlicher Hinsicht muss der Markt hinsichtlich der Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sein.
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Auf dem definierten Markt kann eine Wettbewerbsverfälschung zwar infolge der zuvor ebenfalls bereits festgestellten,