Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
des Jahres 1889 wurde eine vierte Sektion eingerichtet und mit richterlichen Funktionen versehen. Während eines Zeitraums von dreißig Jahren wurde, wie im englischen Modell, folglich nur ordentlichen Richtern Jurisdiktionsgewalt über den Staat eingeräumt. Der italienische Consiglio di Stato hat niemals das Ansehen und die Autorität seines französischen Pendants erreicht.[54]
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Fünftens lehnte sich das italienische Verwaltungssystem zu Beginn sehr eng an das französische präfektorielle Modell an. In Italien kam dem Präfekten dieselbe Rolle wie in Frankreich zu: Er handelte als Regierungsvertreter auf der Ebene der Provinz. Der Präfekt, der formal dem Innenministerium zugeordnet war, war ein Verwaltungsbeamter mit interministeriellen Kompetenzen, da die wenigen Provinzämter, die zu dieser Zeit von anderen Ministerien eingerichtet worden waren, seiner Kontrolle unterstanden. In dem instabilen politischen System Italiens übernahm der Präfekt jedoch bald noch eine weitere Funktion: Er wurde zu einem politischen Instrument der Regierung. Diese Rolle hatte er auch in der Zeit des Faschismus inne, in welcher er dazu benutzt wurde, politische und administrative Wahlen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Im Ergebnis entlieh sich das italienische Verwaltungssystem eine große Anzahl französischer Institutionen. Gleichwohl blieben bestimme Elemente des Verwaltungssystems von dem französischen Modell unberührt oder wurden jedenfalls nicht unmittelbar von diesem beeinflusst.
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VI. Vereinheitlichungstrends
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Die Unterschiede zwischen den nationalen Verwaltungssystemen und Verwaltungsgesetzen sehen sich neuerdings externem und internem Druck ausgesetzt, der auf eine Annhäherung, vielleicht gar auf eine Vereinheitlichung hinwirkt. Nationale Verwaltungen sind oft mit vergleichbaren Problemlagen konfrontiert und haben, trotz ihres unterschiedlichen Kontexts, im Allgemeinen ähnliche Lösungswege gewählt. Es trifft deshalb nicht zu, dass im Bereich des Verwaltungsrechts die Besonderheiten vorherrschen und jedes nationale System einzigartig ist.
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Kolonialismus und Krieg hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Verwaltungsstrukturen. Ersterer trug zur Hierarchisierung und zur Herausbildung von Autorität innerhalb der nationalen Verwaltungen bei, ungeachtet der Differenzen zwischen dem französischen Modell (wo „la Métropole gouverne et administre“[55]) und dem britischen Modell der „indirect rule“.[56] Der Krieg führte zu einer Ausweitung der Regierungsverantwortlichkeiten, denn er zwang die nationalen Regierungen dazu, neue Regelungen in Bezug auf Verwaltungsverträge zu schaffen, mehr Steuern einzuziehen, den Sektor der staatlichen Wirtschaft auszudehnen, die staatlichen Interventionen in die Wirtschaft zu intensivieren und die Versorgung der Armeeangehörigen und ihrer Familien sicherzustellen.
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Wirtschaftskrisen, insbesondere die große Krise der Jahre 1929 bis 1933, drängten die Regierungen zum Handeln zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung, sahen sie sich doch einer „Letztverantwortung“ für die Wirtschaft ausgesetzt. Trotz einiger Unterschiede zwischen den Ländern (von denen einige mehr, andere weniger „etatistisch“ waren) trieben wirtschaftliche Krisen die Ausweitung der Regierungsfunktionen maßgeblich voran. Dies geschah nicht zuletzt im Wege der Nachahmung, da sich die Länder in Momenten der Krise in besonders intensiver Weise ausländischer Vorbilder bedienten.
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Innerstaatlicher Druck hin zu einer Verwaltungsvereinheitlichung setzte mit der Industrialisierung, dem Rationalismus und schließlich der Dezentralisierung ein. Nach dem Ersten Weltkrieg gewannen der Taylorismus und die „wissenschaftliche Betriebsführung (scientific management)“ unter den Regierungen an Einfluss.[57] Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Zeitalter der Organisation und der „managerial revolution“.[58] Die 1960er Jahre sahen die Entwicklung des „Planning, Programming, Budgeting System (PPBS)“ und die „Rationalisation des Choix Budgetaires (RCB)“. In den 1990er Jahren verbreitete sich das „New Public Management“ in allen Verwaltungssystemen. Alle diese Reformen basierten auf der Vorstellung, dass Verwaltungen weitgehend wie Unternehmen geführt werden können, und man stellte auf vermeintlich rationalere Organisations- formen und Verfahren um.
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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging ein weiterer interner Druck von der Dezentralisierungsbewegung aus. Sie war in allen europäischen Staaten mehr oder weniger stark zu spüren und führte zu einer Neuverteilung der Machtstrukturen; es kam zu zahlreichen komplexen Vereinbarungen zwischen Zentrum und Peripherie. Insbesondere das deutsche föderale Grundgesetz diente als Inspirationsquelle für die Reformen in Italien, Spanien und Frankreich.[59]
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Um die Vereinheitlichungstendenzen richtig zu verstehen, muss man auch die Wissenschaft in den Blick nehmen. Über die gesamten beiden letzten Jahrhunderte führten Rechtswissenschaftler intensive rechtsvergleichende Untersuchungen zum öffentlichen Recht im Allgemeinen und zum Verwaltungsrecht im Besonderen durch. Der Blick richtete sich dabei insbesondere auf England und Frankreich (zu denken ist an den Diskurs von Albert Venn Dicey und Alexandre Vivien, Léon Aucoc und Henry Berthélemy oder auch Maurice Hauriou und wiederum Dicey),[60] Frankreich und Deutschland (dabei ist Otto Mayer hervorzuheben),[61] Deutschland und England (Rudolf von Gneist),[62] Italien und Deutschland (Vittorio Emanuele Orlando und Paul Laband, Santi Romano und Georg Jellinek),[63] Italien und Frankreich (Romano und Hauriou),[64] Italien und England (Massimo Severo Giannini und William Wade),[65] Österreich und Frankreich (Hans Kelsen und Charles Eisenmann),[66] und nicht zu vergessen England und die Vereinigten Staaten (William Robson, Frank Johnson Goodnow und James McCauley Landis).[67] An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren ein Mitglied des französischen Conseil d’État, Max Boucard, und ein namhafter Verwaltungsrechtsprofessor, Gaston Jèze, die Herausgeber einer „Bibliothèque internationale de droit public“, in der Werke von Paul Laband, Albert Venn Dicey, Frank Johnson Goodnow, Josef Redlich und James Bryce sowie die französische Ausgabe von Otto Mayers „Deutsches Verwaltungsrecht“ publiziert wurden.
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VII. Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts
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Die Entwicklung der Verwaltungssysteme in Europa erfolgte zyklisch: von gemeinsamen Grundlagen zu nationaler Ausdifferenzierung, anschließend von nationaler Ausdifferenzierung zu wachsenden Gemeinsamkeiten. Einige Phasen dieses Zyklus hingen überwiegend mit der Institutionengeschichte zusammen; andere waren mehr mit der allgemeinen Geistesgeschichte verknüpft. Wenn man die Pendelbewegungen genauer betrachtet, werden unter den vielen nationalen Spielarten vorherrschende Muster erkennbar.
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Das erste gemeinsame Merkmal ist die gewaltige Ausweitung exekutivischer Tätigkeit.[68] Recht und Ordnung („l’Etat gendarme“), danach zusätzlich Steuerung und Regulierung der Wirtschaft („l’Etat propulsif“) und später noch die Daseinsvorsorge („l’Etat Providence“) sind die gemeinsamen Aufgaben der verschiedenen Verwaltungssysteme in Europa. Die Verwaltung, die zunächst als ein Apparat aufgefasst worden war, um den Gehorsam der Subjekte gegenüber der Obrigkeit zu erzwingen[69] (der Bürger war „Untertan“ oder „administré“), wurde nun dafür verantwortlich, Dienstleistungen gegenüber dem Bürger zu erbringen. Als Folge des Kompetenzzuwachses