Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
die Entwicklung des Verwaltungsrechts vorangetrieben.[81] Die Gerichte haben zur Rationalisierung des Verwaltungsrechts und zur Ausarbeitung seiner grundlegenden Prinzipien (z.B. Unparteilichkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit) beigetragen. Mehr als andere Rechtsgebiete ist das Verwaltungsrecht ein von Richtern gemachtes Recht.
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Die gerichtliche Kontrolle hat darüber hinaus einen indirekten Beitrag zur Entwicklung des Verwaltungsrechts geleistet, indem sie den Wissenschaftlern, welche die Gerichtsentscheidungen interpretieren, das Forschungsmaterial in Gestalt von rationes decidendi und von dicta für weitere Untersuchungen geliefert hat. Nach Jean Rivero hat sich die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht in Frankreich „im Schoße der Rechtsprechung“ entwickelt.[82] Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht ist ein gemeinsames Werk von Richtern und Wissenschaftlern. Verwaltungsrecht hat sich in allen Ländern, sowohl in solchen, die in der Tradition des Common Law stehen, als auch in denjenigen kontinentaleuropäischer Tradition, als ein besonderer Rechtszweig fest etabliert.
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VIII. Kontinuität und Wandel
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Seit den Gründungsjahren haben viele Eigenschaften des Staates und der Verwaltung einen Wandel erfahren: ihre Funktionen, ihre Größe sowie ihre Beziehung zu Politik und Gesellschaft. Diese Veränderungen geschahen weder aus einem einzigen Impetus heraus, noch haben sie einheitliche Auswirkungen. Stattdessen gibt es zahlreiche Interdependenzen. Die bedeutendsten Veränderungen stehen im Zusammenhang mit dem Konzept der Unsterblichkeit der Verwaltung,[83] dem europäischen Kontext der öffentlichen Verwaltung, den Beziehungen zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrecht, zwischen kollektiver Willensbildung und öffentlicher Verwaltung, und der Entwicklung des enabling state.
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Vom „Vater“ des deutschen Verwaltungsrechts, Otto Mayer, stammt der Ausspruch: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“[84]. Mayer formulierte diesen Satz in seinem „Verwaltungsrecht“ und betonte, dass dies die allgemeine Auffassung seiner Zeit war. Doch hat die Beständigkeit der Verwaltung, wenn nicht sogar ihre Unsterblichkeit, mittlerweile ein Ende gefunden. Veränderungen gehören nunmehr zum Alltag. Kontexte ändern sich. Funktionen, Strukturen und Prozesse unterliegen einem Wandel. Das Personal des öffentlichen Dienstes verändert sich. Die Verwaltung wird nicht länger als ausschließlich instrumentell und in ihrer hergebrachten Gestalt als an jede Politikrichtung anpassungsfähig betrachtet. Wenn sich die politischen Richtungen ändern, muss dies der Verwaltungsapparat bisweilen auch in organisatorischer Hinsicht nachvollziehen, um die jeweilige Politik in die Praxis umzusetzen.
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An diesem Punkt scheint ein Widerspruch in dem vorherrschenden Standpunkt zu Mayers Zeit auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Verwaltungsrecht durchaus schon als ein im Verfassungsrecht wurzelnder Zweig des öffentlichen Rechts wahrgenommen. Das Verfassungsrecht war die Grundlage, auf der das Verwaltungsrecht ruhte, und es konnte nicht geändert werden, ohne dass dies Auswirkungen auf das nachgeordnete Verwaltungsrecht gehabt hätte.[85] Dies aber wird von Mayers berühmtem Diktum in Abrede gestellt. Eine weitere Konsequenz des Untergangs des Konzepts von der „Unsterblichkeit“ der Verwaltung ist, dass dogmatische Modelle durchaus obsolet werden können. Die Verwaltung ändert sich jeden Tag und lässt damit bisweilen solche Modelle als unzulänglich erscheinen.
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Schließlich wird administrativer Wandel heutzutage regelmäßig durch Regierungsreformen eingeleitet. Das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform der Verwaltung kam im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf. Es ist zu einem nicht geringen Teil auf die politische Ebene zurückzuführen. Frankreich während der Zeit der von Léon Blum (1936–1937) angeführten Front populaire bietet insoweit ein gutes Beispiel. Blum schreibt das Scheitern seiner Regierung ihrer Unfähigkeit zu, die Verwaltung zu reformieren. Verwaltungsreform war ein Mittel, um die administrativen Strukturen und Verfahren der neuen Politik einer linksgerichteten Regierung anzupassen.
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Daneben entwickelte sich das Bedürfnis nach einer Reform der Verwaltung aber auch aus den öffentlichen Verwaltungen selbst heraus. Ein Beispiel dafür ist der Fulton-Report aus dem Jahre 1968, welcher vorschlug, dass die britischen öffentlichen Verwaltungen ihr auf Generalisten ausgerichtetes Modell zugunsten einer weit größeren Rolle von Spezialisten reformieren sollten. Dies führte zur Gründung eines Civil Service College, dessen Aufgabe darin bestand, Verwaltungsbedienstete zu schulen.
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Bis an die Schwelle der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts blieben Verwaltungsreformen ein episodisches Phänomen in Europa. Die Regierungen konzentrierten ihre Bemühungen auf Reformen des besonders sichtbaren Dienstleistungsbereichs (wie Gesundheit, Renten, Bildung, Wohnungsbau und Beschäftigung). Obgleich es Pläne für eine allgemeine Verwaltungsreform durchaus gab, wurden diese letztlich nicht realisiert. Dies änderte sich im letzten Viertel des Jahrhunderts. Zuerst wurde die Verwaltungsreform zu einem eigenständigen politischen Ziel, dessen Realisierung oft Regierungsmitgliedern überantwortet wurde, die sich ausschließlich dieser Aufgabe widmeten. Zweitens wurde die Verwaltungsreform zu einer permanenten öffentlichen Aufgabe. Drittens wurde die Verwaltungsreform an die Spitze der politischen Agenda gesetzt, versehen mit dem kraftvollen und andauernden Bekenntnis sicherzustellen, dass der Staatsapparat zur Umsetzung der Regierungspolitik so effektiv wie möglich gestaltet ist. Viertens und letztens breitete sich die Verwaltungsreformpolitik als gemeineuropäisches Phänomen aus und wurde in vielen Ländern zum Gegenstand des Regierungshandelns.
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Die Hauptgründe für das Anliegen der Verwaltungsreform waren die Wiederentdeckung, Affirmation und Ausbreitung der Märkte und des Verbraucherschutzes. Mit ihnen ging ein neues Bürgerverständnis einher. Der Nutzer der öffentlichen Einrichtungen und Dienste war nicht länger administré, sondern ein Kunde, der zufrieden gestellt werden musste. Ein weiterer wichtiger Grund war das Erstarken der Idee des freien Marktes. Dank dieser Idee haben die Verwaltungsreformen ihren Charakter dahingehend geändert, dass Verwaltungshandeln nicht etwas den öffentlichen Sektor lediglich intern Betreffendes, sondern gerade auch für das Funktionieren der Wirtschaft von größter Bedeutung ist: Effizienz und Effektivität werden somit imperativ.
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Die Verwaltungsreformen, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern in Gang gesetzt wurden, weisen zahlreiche gemeinsame Merkmale auf. Sie wurden überall mit emphatischen Bezeichnungen versehen, um ihren innovativen Gehalt herauszustellen: „Neues Steuerungsmodell“ in Deutschland seit 1978, „New Public Management“ im Vereinten Königreich seit 1979, „Renouveau du service public“ in Frankreich seit 1989, „Modernización“ in Spanien seit 1992. Die schöne Formulierung „Re-inventing government“, von David Osborne und Ted Gaebler 1992 in den Vereinigten Staaten geprägt, wurde in vielen europäischen Ländern übernommen. Verwaltungsreformen waren in Ländern mit konservativen Regierungen, etwa Großbritannien in den Jahren von 1979 bis 1997, genauso verbreitet wie in Ländern mit linksgerichteten Regierungen, etwa Frankreich von 1981 bis 1986, von 1988 bis 1993 und von 1997 bis 2002, oder in Ländern mit Koalitionsregierungen wie Deutschland und Italien. Ähnliche Verwaltungsreformen wurden in Ländern mit erheblich voneinander abweichenden Verwaltungskulturen durchgeführt. Die Reformen wurden nahezu immer von der Regierung ausgearbeitet, aber kaum jemals von der Opposition