Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
der ex parte civis ergänzt, zum Teil gar ersetzt.
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Die Ausweitung der administrativen Funktionen geschah schrittweise, und zwar von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie im Falle Österreichs),[70] als nationale Parlamente nun auch die unteren Klassen der Gesellschaft repräsentierten und mehr Gesetze in den Bereichen Arbeitsschutz, Sozialwesen, Renten, Gesundheit, Beschäftigungsförderung oder Bildung verabschiedeten.[71] Die beiden Hauptantriebskräfte dieser Entwicklung waren die Parlamente und die Gerichte. Sie beeinflussten die Ausweitung der Verwaltungsaufgaben des Staates allerdings auf unterschiedliche Weise: Die Parlamente dehnten die Bereiche aus, für welche die Verwaltung zuständig sein sollte, während die Gerichte die Verwaltungspraxis rationalisierten, allgemeine Prinzipien aufstellten und die Regierungen dazu zwangen, im Einklang mit der rule of law zu handeln.
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Das zweite hervorstechende Merkmal eines ausgereiften Verwaltungssystems ist eine stete Spannung zwischen Politik und Verwaltung. Der Verwaltungsstaat ist ein Staat, in dem die politische Gestaltung letztlich der rule of law unterliegt, die mittels richterlicher Kontrolle durchgesetzt wird.[72] Die Hauptaufgabe der Verwaltung ist der Gesetzesvollzug.[73] Daraus ergeben sich sowohl politische als auch theoretische Implikationen. Die Auffassung, wonach den Behörden lediglich eine beschränkte Entscheidungsfreiheit zukommen darf, weil sie verpflichtet sind, die politischen Entscheidungen, die vom Parlament getroffen werden, umzusetzen, geht davon aus, dass der Verwaltungsapparat seine Legitimation vom Parlament erhält: Die Bürger wählen die Mitglieder des Parlaments; das Parlament verabschiedet dann die Gesetze, wodurch es an die Regierung und die Verwaltung Legitimation weiterreicht („Legitimationszusammenhang“).[74]
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Die positivistische Sicht, nach der das Verwaltungssystem das Gesetz passiv implementiert, billigt Beamten und Richtern nur in engen Grenzen einen eigenen Bewegungsspielraum zu. Ihre Aufgabe beschränkt sich auf die Auslegung der Gesetze, und das Verfahren, in dem das Recht interpretiert werden kann, ist wiederum selbst durch Gesetze reguliert. Die Gesetzesanwender können bei Fehlen einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen auf Analogieschlüsse und allgemeine Rechtsprinzipien zurückgreifen. Diese mechanische, positivistische Herangehensweise ist jedoch mittlerweile weitgehend verdrängt.
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Eine wesentliche Komponente des Verwaltungsstaates ist ein Berufsbeamtentum, das für eine stabile Bürokratie steht, deren Angehörige nach dem Leistungsprinzip ausgewählt sind. Dieses Prinzip ersetzte das herkömmliche System der politischen Patronage und die venalité des offices, die Käuflichkeit der Ämter. Allerdings kennt das Prinzip der Neutralität der Verwaltung verschiedene Ausprägungen, von der „faceless figure“ des britischen öffentlichen Bediensteten, der vollständig aus dem politischen Betrieb ausgegliedert ist, bis zu der französischen hybriden Laufbahn des „haut fonctionnaire“ und des „cabinet ministeriel“, aber auch Figuren wie den deutschen Dualismus, der zwischen „Laufbahnbeamten“ und „politischen Beamten“ unterscheidet.
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Das Paradigma vom „Staat als Einheit“ ist das dritte gemeinsame Merkmal des Verwaltungsstaates. Dieses Paradigma beruht auf einem nationalen Zentrum bestehend aus Ministerien, Fachabteilungen und Dienststellen und weist verschiedene Varianten auf, von denen die einen mehr, die anderen weniger hierarchisch sind (mit Letzteren wird das Ziel verfolgt, eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen und eine effizientere Aufsicht zu erreichen). Über ein gewisses Maß an zentralisierter Gewalt und einheitlichen Regelungen verfügen auch die dezentralisierten und föderalen Staaten, zumindest für fiskalische und militärische Angelegenheiten.
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Das Zentrum ist natürlich mit der Peripherie verbunden, um die zentrifugalen Kräfte unter Kontrolle zu halten und die Einheitlichkeit des Verwaltungsraums zu bewahren; dies gilt auch in kleinen Ländern wie der Schweiz.[75] Die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie kann verschiedene Formen annehmen: In einer stärker zentralisierten Form trifft das Zentrum die Entscheidungen, während die Peripherie diese ausführt („la chaine d’exécution descend sans interruption du ministre à l’administré“[76]). Eine dezentralisiertere Form gesteht der Peripherie die Ausübung eines gewissen Maßes an Selbstverwaltung zu.
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Die Beziehung von Zentrum und Peripherie zeichnet sich in fortentwickelten Verwaltungsstaaten durch zwei bedeutende Gegensätze aus: Je mehr die Verwaltungssysteme für die Wohlfahrt des Bürgers Sorge tragen, desto mehr müssen die zentralen Verwaltungen wachsen. Schon Tocqueville beobachtete: „wenn die Gleichheit fortschreitet, […] scheinen alle Kräfte wie von selbst zum Zentrum zu strömen“.[77] Dies schafft allerdings zentrale Strukturen, die tendenziell überlastet sind, was folglich zu Bestrebungen der Dezentralisierung führt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden über 200 Regionen in den europäischen Nationalstaaten gegründet. Seit dem Jahre 1994 verfügt die Europäische Union sogar über ein spezielles Organ, den Ausschuss der Regionen, um ihnen eine Stimme zu verleihen.
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Da England bereits früh zentrale Strukturen aufgebaut hatte, war es dort möglich, den local governments viel Freiheit zu gewähren.[78] Deren Zahl wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drastisch reduziert (in den Jahren 1974, 1986 und 1990). Ein traditionell zentralistisch geprägtes Land wie Frankreich verfügt, trotz seiner Bemühungen, die Anzahl der Kommunen zu reduzieren, immer noch über eine große Zahl von collectivités locales die, dank der Kumulierung von Mandaten, eine wichtige Rolle in der nationalen Politik spielen.
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Das vierte Merkmal des Verwaltungsstaates besteht darin, dass der Prozess der Entscheidungsfindung in der Verwaltung rechtlich geregelt ist (rule of law, règle de droit, Rechtsstaat). Auf keinen Fall dürfen Regierung oder Verwaltung willkürlich handeln. Die rechtliche Regelung der Verwaltungsverfahren erfüllt zwei weitere Funktionen: Sie dient erstens dem Bedürfnis, den Regierungsapparat zu rationalisieren (durch die Zuweisung von Befugnissen, die Festlegung von Arbeitsabläufen, die Einführung wissenschaftlicher Bewertungen und die Bestimmung von Fristen), und gewährt zweitens der Zivilgesellschaft Teilhabe an der Regierungstätigkeit, indem den Bürgern das Recht auf Information eingeräumt wird („government in the sunshine“), ihren Stimmen Gehör verschafft wird (Verwaltungsdemokratie), ihnen das Recht gewährt wird, zu widersprechen (Regierung durch Konsens) und Verwaltungsentscheidungen anzufechten (Verwaltungsgerichtsbarkeit). Dies sorgt letztlich dafür, dass die öffentliche Gewalt im Verhältnis zur Gesellschaft in Schranken gehalten wird, und wirkt der regelmäßigen Einseitigkeit von Verwaltungsentscheidungen dadurch entgegen, dass deren Gesetzmäßigkeit und Angemessenheit überprüft werden. Die rechtlichen Regelungen der Verwaltungsverfahren sind durchaus unterschiedlich. In Ländern wie Österreich folgen die Vorschriften dem gerichtlichen Modell;[79] in Ländern wie Italien besteht das Hauptziel der verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften darin, die Transparenz und Effizienz des Verwaltungshandelns zu sichern.[80]
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Fünftes Merkmal ist, dass die Verwaltungsentscheidungen Gegenstand der Kontrolle durch unabhängige Instanzen sind, und zwar gerichtlicher wie außergerichtlicher. In einigen Ländern ist die Befugnis zur gerichtlichen Kontrolle besonderen Gerichten übertragen („dualité de jurisdictions“), in anderen Ländern hingegen der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die gerichtliche Kontrolle hat in einigen Ländern eine zentrale Rolle erlangt, zumal dort, wo die Verwaltungsrichter – wie etwa die Mitglieder des französischen Conseil d’État – zu den maßgeblichen Experten des Verwaltungsrechts geworden sind und Verwaltungsrechtswissenschaftler sich vornehmlich mit ihren Entscheidungen befassen. In