Juristische Methodenlehre. Mike Wienbracke
Doch auch sofern sich eine Vorschrift im vorstehenden Sinn als vollständig erweisen sollte, hat die Verwirklichung ihres Tatbestands nur dann ohne Weiteres den Eintritt der in ihr vorgesehenen Rechtsfolge zur Konsequenz, wenn beide darin zwingend (i.S.v. „muss“) miteinander verknüpft sind, sog. gebundene Entscheidung (Signalwort v.a. „ist“; z.B. § 28 Abs. 1 VwVfG: „Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu […] äußern“).[44]
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Demgegenüber existieren gerade – aber nicht nur (siehe z.B. § 315 Abs. 1 BGB) – im Öffentlichen Recht zahlreiche Vorschriften, nach denen bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Normanwender über Ermessen dahingehend verfügt, aus dem gesetzlich jeweils vorgegebenen Kreis möglicher Rechtsfolgen eine bestimmte auszuwählen (Signalwort v.a. „kann“; z.B. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG: „Ein […] Verwaltungsakt kann […] zurückgenommen werden […]“). Sofern das Gesetz insoweit keine Einschränkungen macht, bezieht sich dieses Ermessen sowohl auf die Frage, „ob“ im konkreten Fall überhaupt eine dieser Rechtsfolgen gesetzt wird oder nicht (sog. Entschließungsermessen) und bejahendenfalls, „wie“ genau diese Rechtsfolge im Einzelnen ausgestaltet ist (sog. Auswahlermessen). Dabei ist jedwede Ermessensausübung im grundgesetzlichen Rechtsstaat nicht etwa „frei“ i.S.v. „beliebig“ bzw. „willkürlich“, sondern unterliegt bestimmten gesetzlichen Vorgaben (z.B. § 40 VwVfG), auf deren Einhaltung sie gerichtlich überprüft werden kann, siehe z.B. § 114 S. 1 VwGO. Nur dann, wenn hiernach bis auf eine sämtliche der nach der jeweiligen Ermessensvorschrift abstrakt in Betracht kommenden Verhaltensvarianten im konkreten Fall ermessensfehlerhaft wären, ist in diesem das Ermessen auf die eine ermessensfehlerfreie Entscheidung reduziert, welche dann in Ermangelung einer rechtmäßigen Alternative getroffen werden muss, sog. Ermessensreduzierung auf Null.[45]
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Mitunter wirkt die von einer Rechtsnorm ausgesprochene Rechtsfolge allerdings nicht unmittelbar auf ein Lebensverhältnis ein, sondern steht dem Eintritt der von einer Antwortnorm grundsätzlich angeordneten Rechtsfolge entgegen (sog. Gegennormen[46]; z.B. die rechtshindernden, -vernichtenden und -hemmenden Einwendungen bzw. Einreden der §§ 134, 362 Abs. 1 bzw. 214 Abs. 1 BGB sowie die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der §§ 32, 34 bzw. 33, 35 StGB) oder hilft bei der Anwendung einer anderen Rechtsnorm, sog. unvollständiger Rechtssatz (lex imperfecta).[47]
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Hinweis
Namentlich im Zivilprozess ist die Unterscheidung zwischen Antwort- und Gegennormen von großer Bedeutung: Denn nach der sog. Normbegünstigungstheorie trägt der Anspruchsteller „nur“ die Beweislast für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der anspruchsbegründenden (Antwort-)Norm. Demgegenüber obliegt es dem Anspruchsgegner zu beweisen, dass der Tatbestand einer Gegennorm erfüllt ist, so dass der ihm gegenüber geltend gemachte Anspruch nicht entstanden, wieder vernichtet oder aber zumindest nicht durchsetzbar ist.[48]
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Zur letztgenannten Gruppe der sog. Hilfsnormen zählen
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• | Legaldefinitionen (z.B. § 12 Abs. 1 StGB: „Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind“), mit denen der Gesetzgeber die Bedeutung eines in einem anderen Rechtssatz (z.B. § 23 Abs. 1 StGB) verwendeten Begriffs (z.B. „Verbrechen“) verbindlich festlegt.[49] |
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Hinweis
Legaldefinitionen sind entweder in einer separaten Vorschrift enthalten, die einen ganzen Katalog von gesetzlichen Begriffsbestimmungen enthält (z.B. § 11 Abs. 1 StGB: „Im Sinne dieses Gesetzes ist […]“), oder aber über das jeweilige Gesetz verstreut (siehe z.B. § 13 BGB: „Verbraucher ist […]“), wobei der Gesetzgeber sich dann nicht selten der sog. „Klammertechnik“ bedient (z.B. § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG: „Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt) […].“).[50]
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Beispiel[51]
Im „Restaurant-Fall“ (Rn. 2) ist A dem I u.a. nur dann nach § 823 Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er dessen Eigentum „vorsätzlich oder fahrlässig“ verletzt hat. Was dabei unter dem Begriff „fahrlässig“ zu verstehen ist, ergibt sich aus der Legaldefinition des § 276 Abs. 2 BGB: „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“
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Hierbei ist der Gesetzgeber nicht etwa an eine außerrechtliche Terminologie gebunden, sondern verfügt über eine eigenständige Definitionshoheit („Definierfreiheit“).[52] Plastisch insoweit Rüthers/Fischer/Birk: „Ein schönes Beispiel dafür, dass Legaldefinitionen nichts anderes als vom Gesetzgeber festgelegte Sprachgebrauchsvereinbarungen sind, ist die Bestimmung einer ,Reichsschokoladenverordnung‘ der dreißiger Jahre, in der angeordnet wurde: ,Weihnachtsmänner im Sinne dieser Regelung sind auch Osterhasen‘.“[53] |
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Um dem Rechtsanwender die Handhabung eines unbestimmten Rechtsbegriffs (z.B. § 28 Abs. 2 VwVfG: „Anhörung […] nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten“) oder einer Generalklausel (z.B. § 138 Abs. 1 BGB: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig“) zu erleichtern, enthält das Gesetz mitunter eine beispielhafte Aufzählung von Fällen, in denen diese(r) „insbesondere“ erfüllt ist (siehe z.B. § 28 Abs. 2 Nr. 1-5 VwVfG, § 138 Abs. 2 BGB). Zwar bringt der Gesetzgeber durch diese Formulierung deutlich zum Ausdruck, dass der unbestimmte Rechtsbegriff bzw. die Generalklausel auch in anderen als den gesetzlich aufgeführten Fällen vorliegen kann (Voraussetzung: Vergleichbarkeit mit diesen). Doch gilt umgekehrt, dass falls eine von diesen Konkretisierungen gegeben ist (z.B. § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG bzw. § 138 Abs. 2 Var. 1 BGB), die betreffende Vorschrift ohne Weiteres eingreift.[54] Zur rechtlichen Lösung des konkreten Falles bedarf es dann keines weiteren Eingehens mehr auf den betreffenden unbestimmten Rechtsbegriff (z.B. § 28 Abs. 2 VwVfG: Wann ist die Anhörung „nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten“?) bzw. die jeweilige Generalklausel (z.B. § 138 Abs. 1 BGB: Wann verstößt ein Rechtsgeschäft gegen die „guten Sitten“?).[55] |
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Beispiel[56]
Im „Eckkneipen-Fall“ (Rn. 2) wurde A die nach § 2 Abs. 1 S. 1 GastG notwendige Gaststättenerlaubnis ursprünglich erteilt, obwohl er bereits zu diesem Zeitpunkt trunksüchtig gewesen ist. Als die zuständige Behörde hiervon nunmehr erfährt, beabsichtigt sie, die Erlaubnis wegen „Unzuverlässigkeit“ des A nach § 15 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG zurückzunehmen. Ist A „unzuverlässig“?
„Unzuverlässig“