Strafrecht Besonderer Teil. Olaf Hohmann
eintretende Bewusstlosigkeit.[8] Der Begriff der Plötzlichkeit darf dabei nicht zu eng ausgelegt werden.[9] Sie liegt vor, wenn zur Abwendung der Gefahren ein sofortiges Eingreifen geboten ist.[10] Zu den Unglücksfällen zählt auch ein überraschendes Ereignis, bei dem Schaden noch nicht angerichtet ist, aber ernste Gefahr unmittelbar droht, weil andernfalls unter Umständen die Hilfe zu spät kommen würde.[11]
Beispiele:
Unfälle;[12] unmittelbar drohende Gewalttaten;[13] eine sich rasch verschlimmernde Krankheit kann ebenfalls zu einem Unglücksfall werden;[14] dies gilt jedoch nicht für eine sich langsam entwickelnde Krankheit;[15] abgelehnt worden ist ein Unglücksfall auch für leichtere Verletzungen.[16]
Beachte:
Es ist ohne Bedeutung, ob das Ereignis vorsätzlich, fahrlässig oder überhaupt schuldhaft herbeigeführt wird.[17]
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Auch der Eintritt einer bloßen Sachgefahr genügt.[18] Jedoch wird sie betreffend die Abwägung, welche Hilfe zumutbar ist, zu einer restriktiven Anwendung des § 323c Abs. 1 führen.
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Umstritten ist die Frage, ob auch ein Selbsttötungsversuch (stets) als Unglücksfall anzusehen ist, wie dies die Rechtsprechung annimmt.[19]
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Ein Teil der Literatur vertritt die gegenteilige Auffassung, nach der wegen des Selbstbestimmungsrechts des Menschen grundsätzlich kein Unglücksfall vorliegt.[20]
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Eine vermittelnde Position nimmt die h.L. ein. Sie hält frei verantwortliche Selbsttötungsversuche nicht für Unglücksfälle, wohl aber diejenigen, bei denen keine überlegte Entscheidung zugrunde liegt.[21]
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Angesichts des Umstands, dass nach empirischen Erkenntnissen die Mehrzahl der Selbsttötungsversuche von hilfsbedürftigen, verstörten Menschen und nicht von frei verantwortlichen Bilanzsuizidenten unternommen wird,[22] ist die vermittelnde Auffassung der h.L. vorzugswürdig. Sie vermeidet Wertungswidersprüche zu § 216 und wird zudem dem Ausnahmefall der Bilanzselbsttötung ebenso gerecht, wie der „Masse“ der Fälle, in denen ein „Unglück“ vorliegt (vgl. zur Problematik auch § 1 Rn. 20 f. und § 3 Rn. 12). Weil aber regelmäßig für denjenigen, der zu einem Selbsttötungsversuch hinzukommt, nicht erkennbar ist, ob dieser „frei verantwortlich“ oder „nicht frei verantwortlich“ ist,[23] kommt die h.L. zumeist zum selben Ergebnis wie die Rechtsprechung.
Vertiefungshinweis:
Ob das Vorliegen eines Unglücksfalls aus der ex-post-[24] oder ex-ante-Sicht[25] zu beurteilen ist, ist ebenfalls umstritten. Da § 323c jedoch nicht das Vertrauen selbst, sondern nur Individualrechtsgüter schützen will, ist zutreffend mit der h.M. auf die ex-post-Sicht abzustellen. Beide Ansichten dürften aber kaum zu unterschiedlichen Endergebnissen kommen, da es jedenfalls für die Erforderlichkeit der Hilfeleistung auf eine ex-ante-Sicht ankommt (vgl. Rn. 11).
Beispiel:
A sieht den blutüberströmten B an einer einsamen Bushaltestelle liegen. Ob B schon tot ist oder noch lebt und hilfebedürftig ist, ist für A nicht erkennbar. A geht weiter. Tatsächlich war B zu diesem Zeitpunkt schon tot. – Nach der h.M. liegt schon kein Unglücksfall vor, da B keine Gefahr mehr droht. Nach der a.A. liegt zwar ein Unglücksfall vor, jedoch ist Hilfe nicht mehr erforderlich (vgl. Rn. 11). Nach beiden Ansichten ist das Verhalten des A nicht tatbestandsmäßig.
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b) Gemeine Gefahr wird wie bei § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 definiert (zu den Details vgl. § 35 Rn. 159). Unter gemeiner Not ist eine die Allgemeinheit betreffende Notlage zu verstehen, wie beispielsweise eine Überschwemmung.[26]
2. Umfang der Hilfspflicht
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Die Verpflichtung zur Hilfe, die durch das Vorliegen des Unglücksfalls usw. ausgelöst wird und deren Nichtleistung den Tatbestand ausmacht, findet objektive Grenzen in ihrer Erforderlichkeit und Zumutbarkeit.[27]
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a) Die Hilfeleistung muss erforderlich sein, d.h. – nach ex-ante-Beurteilung eines verständigen Beobachters –[28] eine Chance zur Schadensabwehr oder -begrenzung bieten.[29] Einem Verunglückten muss nur dann keine Hilfe geleistet werden, wenn diese von vornherein offensichtlich nutzlos wäre.[30]
Merke:
Besteht sichere Aussicht auf sofortige anderweitige ebenso geeignete Hilfe, entfällt daher die Pflicht zur Hilfeleistung.
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Es kommt nicht darauf an, ob die Hilfe Erfolg hat oder haben kann.[31] Schmerzlindernde Hilfe muss auch bei unabwendbarem Tod geleistet werden. Allerdings ist Sinnloses nicht erforderlich, beispielsweise bei bereits eingetretenem oder sofort eintretendem Tod des Hilfsbedürftigen.[32] Die Hilfe muss rechtzeitig, in der Regel sofort oder möglichst schnell, erfolgen[33] und wirksam sein, d.h. bestmöglich.[34] Besonderen Anforderungen unterliegen Ärzte, deren bessere Sachkenntnis Art und Umfang ihrer Hilfe maßgeblich bestimmen kann.[35]
Beispiel:
Arzt A passiert eine Verkehrsunfallstelle. Mehrere Passanten stehen um den erkennbar schwerverletzten B herum. A fährt weiter. Der hinter A fahrende Notar C hält ebenfalls nicht an. Tatsächlich verblutet B bis zum Eintreffen des Notarztwagens an der Unfallstelle, weil die unerfahrenen Ersthelfer seine Blutung nicht sachgerecht abbinden. – Während für C die Erforderlichkeit der Hilfeleistung in Ermangelung besonderen Könnens insoweit abzulehnen ist, gilt für A etwas Anderes. Es bestand aus der Sicht eines verständigen Beobachters keine sichere Aussicht auf anderweitige ebenso geeignete Hilfe, wie sie A aufgrund seiner beruflichen Kenntnisse hätte leisten können.
Vertiefungshinweis:
Umstritten ist, ob eine Hilfeleistung erforderlich ist, wenn der in Gefahr Geratene diese ablehnt. Kann er über das gefährdete Rechtsgut verfügen, ist eine Verpflichtung zur Hilfeleistung mit der zutreffenden Ansicht zu verneinen (vgl. auch den Streitstand unter Rn. 5 ff.).[36] Dies gilt auch dann, wenn der Suizident Rettungsbemühungen vor der Einnahme eines todbringenden Mittels ausdrücklich und unmissverständlich untersagt hat.[37]
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b) Die Zumutbarkeit der erforderlichen Hilfe ist ebenfalls objektives Tatbestandsmerkmal.[38] Dieses bestimmt sich nach einer objektiven Gesamtabwägung, in die namentlich die Gefährdung des Hilfsbedürftigen, eine eventuelle Gefährdung des zur Hilfe Verpflichteten, seine Beziehung zum Bedürftigen, seine Lage zum Unglücksort, seine Verwicklung in das Unglück und alle sonst bedeutsamen Faktoren einzubeziehen sind.[39]
Beispiele:
A macht eine Bergwanderung. Er trifft auf B, der nur unzureichend ausgerüstet unterwegs ist. A erkennt, dass B Erfrierungen erleiden wird, wenn er ihm nicht seine Handschuhe überlässt. Wegen der eisigen Temperaturen fürchtet er allerdings, ohne Handschuhe selbst Schaden zu nehmen und behält sie deswegen für sich. – Die Überlassung der Handschuhe war A nicht zumutbar.
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