Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue. Lasse Dinter
Pflichtverletzung des § 266 stellt laut BGH ein „stark normativ geprägt[es] objektives Tatbestandsmerkmal“[31] dar. Prima vista fasst der BGH damit die Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal auf. Allerdings sagt die Normativität eines Tatbestandsmerkmals noch wenig über den Charakter des Merkmals aus. Auch Blankett- bzw. tatbewertende Merkmale sind insofern „normativ“, als sie durch die Hinzunahme einer außertatbestandlichen Wertung auszufüllen sind. Zudem stimmt die Einordnung der Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal nicht mit den Ausführungen des BGH zum Irrtum über die Pflichtverletzung überein:
„Die Annahme etwa, dass jede (worin auch immer begründete) fehlerhafte Wertung, nicht pflichtwidrig zu handeln, stets zum Vorsatzausschluss führt, weil zum Vorsatz bei der Untreue auch das Bewusstsein des Täters gehöre, die ihm obliegende Vermögensfürsorgepflicht zu verletzen, kann nicht überzeugen. Umgekehrt könnte der Senat auch der Auffassung nicht folgen, dass es für die Bejahung vorsätzlichen Handelns ausreicht, wenn der Täter alle die objektive Pflichtwidrigkeit seines Handelns begründenden tatsächlichen Umstände kennt und dass seine in Kenntnis dieser Umstände aufgrund unzutreffender Bewertung gewonnene fehlerhafte Überzeugung, seine Vermögensbetreuungspflichten nicht zu verletzen, stets nur als Verbotsirrtum zu werten ist.“[32]
Der Irrtum darüber, nicht pflichtgemäß zu handeln, führt nach Auffassung des 3. Strafsenats also keineswegs stets zu einem Tatbestandsirrtum. Dies wäre hingegen die zwingende Folge des Irrtums über ein normatives Tatbestandsmerkmal. Der BGH ist vielmehr geneigt, diesen Irrtum als Verbotsirrtum zu bewerten:[33]
„War den Präsidiumsmitgliedern – was allerdings kaum anders vorstellbar sein dürfte – bewusst, dass die Sonderzahlungen für die Mannesmann AG in der gegebenen Situation (Übernahme des Unternehmens durch Vodafone und Ausscheiden von Dr. Esser) ohne jeden Nutzen war, so dürfte ihre irrige Annahme, zur Bewilligung der Prämien gleichwohl berechtigt gewesen zu sein, den Vorsatz unberührt lassen und lediglich einen Verbotsirrtum begründen.“[34]
Deutet man die Kenntnis von der Nutzlosigkeit der Sonderzahlung als ausreichende, „laienhafte“ Bewertung des Tatbestandsmerkmals „Pflichtverletzung“,[35] entspräche das Vorstellungsbild der Täter nicht nur den vorsatzrechtlichen Voraussetzungen eines Blankett- bzw. tatbewertenden Merkmals, sondern zugleich denen eines normativen Tatbestandsmerkmals. Zu dieser Sachverhaltsinterpretation – ohne dies als Revisionsinstanz feststellen zu müssen[36] – neigt der 3. Strafsenat:
„Wer als Verwalter fremden Vermögens in Kenntnis seiner Vermögensfürsorgepflicht eine Maßnahme trifft, die dem Inhaber des betreuten Vermögens keinen Vorteil bringen kann und deswegen einen sicheren Vermögensverlust bedeutet, kennt nicht nur die Tatsachen, die rechtlich als Verletzung der Vermögensfürsorgepflicht zu bewerten sind. Er weiß, weil das Verbot, alles das Vermögen sicher und ausnahmslos Schädigende zu unterlassen, zentraler Bestandteil der Vermögensfürsorgepflicht ist, vielmehr zugleich auch, dass er diese seine Pflicht verletzt.“[37]
Die Vorstellung der Täter, gleichwohl zur Gewährung von Anerkennungsprämien in genanntem Umfang berechtigt zu sein, fiele dann – wie der 3. Strafsenat zutreffend anmerkt[38] – in den Anwendungsbereich des § 17 und wäre Verbotsirrtum.
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Der Rückschluss von der Behandlung des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit in der Rechtsprechung auf die zutreffende Begriffskategorie des Pflichtwidrigkeitsmerkmals kann aber im Allgemeinen nur ein schwaches Indiz darstellen. Nicht sonderlich aussagekräftig ist er deshalb, weil zum einen nicht unerhebliche Unterschiede im Begriffsverständnis normativ geprägter Tatbestandsmerkmale bestehen können[39] und zum anderen die gängigen Irrtumsregeln der entsprechenden Tatbestandsmerkmale von der Rechtsprechung nicht konsequent angewendet werden. So wird § 370 AO zwar als Blankettstrafgesetz identifiziert („Steuerstrafrecht ist Blankettstrafrecht“[40]), Anwendung finden jedoch die Irrtumsfolgen eines normativen Tatbestandsmerkmals.[41]
Da sich der 3. Strafsenat des BGH ohnedies eines Rückgriffs auf „einfache“ Formeln ausdrücklich verschließen möchte, wird man aus der Rechtsfolge des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit keinen zulässigen Schluss auf die möglicherweise zugrunde liegende dogmatische Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ziehen dürfen. Im Gegenteil, eine solche Handhabung könnte der vom Senat eingeforderten „differenzierenden“ Betrachtung widersprechen.
Teil 1 Einführung in die Problematik › B › II. § 266 als „Garantietatbestand“ (Art. 103 Abs. 2 GG)
II. § 266 als „Garantietatbestand“ (Art. 103 Abs. 2 GG)
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Erheblich ist die Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals zudem für die Garantiefunktion des Tatbestands. Ein Strafgesetz genügt danach nur dann dem aus Art. 103 Abs. 2 GG fließenden Gebot nullum crimen sine lege, wenn das verbotene Verhalten präzise bezeichnet wird.[42] Ist die Pflichtwidrigkeit normatives Tatbestandsmerkmal, findet Art. 103 Abs. 2 GG auf die von diesem Merkmal in Bezug genommenen Vorschriften keine Anwendung.[43] Den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG müsste allein der Straftatbestand genügen.[44] Wäre § 266 hingegen ein Blankettstrafgesetz, müssten sich sowohl der Straftatbestand als auch die Ausfüllungsvorschrift an Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen.[45] Auf tatbewertende Merkmale findet der Bestimmtheitsgrundsatz dergestalt Anwendung, dass sich das außerrechtliche Werturteil mit der allgemeinen Überzeugung decken muss. Strafbarkeitsbegründend sind danach nur gesicherte (Wert-)Urteile; Einzel- und Sonderansichten bleiben außer Betracht.[46] Die Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals erlangt mithin auch auf der objektiven Tatbestandsseite des § 266 Relevanz.
Teil 1 Einführung in die Problematik › C. Grundlagen
C. Grundlagen
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Die Identifizierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals in § 266 als normatives Tatbestandsmerkmal, als Blankett- bzw. tatbewertendes Merkmal erlangt für den gesetzlichen Tatbestand und Garantietatbestand nach überwiegender Ansicht zentrale Bedeutung. Zum Verständnis ist es daher sinnvoll, sich zunächst mit dem Tatbestand des § 266 und den grundlegenden Begrifflichkeiten näher vertraut zu machen.
Teil 1 Einführung in die Problematik › C › I. Der Tatbestand der Untreue, § 266 Abs. 1
I. Der Tatbestand der Untreue, § 266 Abs. 1
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Der Tatbestand des § 266 ist unübersichtlich gestaltet. Nur mit Mühe sind die einzelnen Tatbestandsmerkmale der beiden Varianten herauszulesen. Das Verständnis der Strafvorschrift wird erleichtert, wenn die drei Satzteile gesondert betrachtet werden. Der erste Satzteil betrifft die „Missbrauchsvariante“ der Untreue:
Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, mißbraucht […].
Der zweite Satzteil wird als „Treubruchsvariante“ bezeichnet:
[…] oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eine Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt […].
Der dritte Satzteil bezieht sich im Ausgangspunkt auf beide Varianten:
[…] und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, […].
Lange Zeit war unklar, ob auch für die Missbrauchsvariante die aus dem Relativsatz des dritten Satzteils gelesene Vermögensbetreuungspflicht zu fordern ist. Die Antwort ist davon