Handbuch Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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ff) Integration der Parteien in das Verfassungsgefüge
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Mit der Skepsis des Grundgesetzes gegenüber der direkten Demokratie korrespondiert seine Anerkennung der politischen Parteien als Organe der Willensbildung im Repräsentativsystem (Art. 21 GG). Während die Weimarer Reichsverfassung Parteien lediglich in prononciert negativer Perspektive wahrgenommen hatte, indem sie Beamte als „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“ ansprach (Art. 130 Abs. 1 WRV), ordnet ihnen bereits der Herrenchiemseer Verfassungskonvent den seither unbestrittenen Status als Organe der politischen Willensbildung zu (Art. 47 Abs. 3 Satz 1 HChE).[112] Der Parlamentarische Rat ergänzt dieses Gerüst lediglich – auf Antrag des Zentrums – um die Rechenschaftspflicht über die Parteifinanzen.[113] Im Übrigen wird ein parteiübergreifender Konsens sichtbar, die Verfassung der Verfassungswirklichkeit anzupassen und deren Wendung zum vielzitierten Parteienstaat nicht länger zu ignorieren.[114]
c) Bestandssicherung der Verfassung
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Eine der hervorstechenden Eigenschaften des Grundgesetzes besteht darin, dass es über ein eindrucksvolles Arsenal von Instrumenten zu seiner „Bestandssicherung“[115] verfügt, von denen neben dem noch näher zu betrachtenden Vorrang der Verfassung (dazu unten, Rn. 85ff.) drei hervorgehoben seien.[116]
aa) Inkorporationsgebot (Art. 79 Abs. 1 GG)
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Art. 79 Abs. 1 GG schreibt vor, dass Verfassungsänderungen den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändern oder ergänzen müssen. Diese zumeist als Textänderungsgebot bezeichnete, treffender als Inkorporationsgebot zu benennende Norm dient nicht nur dem praktischen Zweck, das geltende formelle Verfassungsrecht in einer aktuellen Textausgabe des Grundgesetzes unschwer auffinden zu können. Der zugrunde liegende Gedanke der „Stringenz und urkundlichen Klarheit“[117] der Verfassung qua Verbot von „Auslagerungen“ auf andere Texte weist vielmehr den spezifischen Mehrwert auf, den Monopolcharakter der einen Verfassungsurkunde zu wahren und die Verfassungsgeltung insgesamt zu stabilisieren.[118] Der besonderen Bedeutung dieses formellen Aspektes waren sich die Schöpfer des Grundgesetzes bewusst. Ausdrücklich hatte schon der Herrenchiemseer Konvent darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen „nicht unwesentlich zur Entwertung der Weimarer Verfassung beigetragen“ habe.[119] Die dort verbreitete Praxis der Verfassungsdurchbrechungen in Gestalt der Auslagerung verfassungsändernder Gesetze aus der Verfassungsurkunde wollte man vermeiden.[120]
bb) Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG)
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Auch Art. 79 Abs. 3 GG stellt eine Verfassungsschutzbestimmung dar – freilich keine formelle, sondern eine materielle. Mit dieser „Ewigkeitsklausel“,[121] die kaum Vorläufer kannte, erreicht die Bestandssicherungskomponente gleichsam ihren logischen Endpunkt, indem sie bestimmte Regelungsgehalte für normativ unantastbar erklärt und jeder Verfassungsänderung einer noch so überwältigenden Mehrheit entzieht. Dabei war man sich von Anbeginn klar darüber, mit dieser Norm revolutionäre Machtwechsel nicht ausschließen zu können; doch sollte ihnen die „Maske der Legalität“ entrissen (Dehler) bzw. der „Schutz der Scheinlegalität“ (C. Schmid) genommen werden.[122] Das war eindeutig auf die angeblich „legale“ Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und den Umstand gemünzt, dass es in Weimar vergleichbare Grenzen der Verfassungsrevision nicht gegeben hatte.[123] Jetzt dominierte der Gedanke, dass sich eine Verfassung nicht im Wege ihrer Änderung selbst sollte vernichten und dass eine revolutionär errichtete neue Ordnung nicht von der Legitimität der alten sollte zehren dürfen.[124] Art. 79 Abs. 3 GG zwingt zur offenen Ausweisung des Kontinuitätsbruches und zum Anbieten neuer, sinntragender Legitimitätsansprüche.
cc) Streitbare Demokratie (Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG)
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Gewissermaßen absolut setzt sich das Grundgesetz des Weiteren in seiner Ausprägung als „streitbare“ (auch: wehrhafte, abwehrbereite) Demokratie.[125] Diese Charakterisierung bezieht sich auf einige Normen, deren gemeinsames Schutzgut die freiheitliche demokratische Grundordnung[126] ist: Art. 9 Abs. 2 (Verbot von Vereinigungen), Art. 18 (Grundrechtsverwirkung von Einzelpersonen) und Art. 21 Abs. 2 GG (Verbot politischer Parteien); im weiteren Sinne zählt auch die Richteranklage nach Art. 98 Abs. 2, Abs. 5 GG dazu. Während Art. 79 Abs. 3 GG sich an den verfassungsändernden Gesetzgeber und damit die Staatsorgane wendet und ihnen gegenüber die eigene Unverbrüchlichkeit im Sinne einer Werthaftigkeit betont, richtet sich die streitbare Demokratie gegen eine bestimmte Form der Grundrechtsausübung durch die Bürger und geht so zur Wehrhaftigkeit über.[127] Während die Ewigkeitsklausel „nur“ bestimmte Strukturprinzipien der Disposition der Staatsorgane entzieht, beschränkt die streitbare Demokratie darüber hinaus die Diskussion in der Gesellschaft.[128] In dieser Reglementierung des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses liegt die Problematik des Konzepts, das im internationalen Vergleich wenig Parallelen findet und in dieser Form lange Zeit als deutsches Unikat gelten konnte.[129] Im Herrenchiemseer Konvent hatte man mit Blick auf Weimar davon gesprochen, die Demokratie dürfe nicht selbstmörderisch werden[130] – im gleichen Atemzug aber auch vor politischem Missbrauch gewarnt. Damit aus dem Schutz der freiheitlichen Demokratie nicht die Bekämpfung des politischen Gegners oder Andersdenkender resultiert, muss man die entsprechenden Instrumente sehr behutsam einsetzen und darf nicht der Gefahr „kleinkarierte[r] Ausmünzungen“[131] erliegen. So hat es denn bisher erst zwei Parteienverbote und noch keinen Anwendungsfall der Grundrechtsverwirkung oder der Richteranklage gegeben. Lediglich beim Vereinigungsverbot ist die Zahl deutlich höher, was nicht zuletzt daran liegen dürfte, dass die Entscheidung hier nicht (wie bei den anderen Normen) beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert ist.
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › I. Der Ursprungskontext des Grundgesetzes › 4. „Ausländische“ Einflüsse und Rechtsvergleich
4. „Ausländische“ Einflüsse und Rechtsvergleich
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Auf regelrechte Verfassungsimporte aus dem Ausland war man bei der Schaffung des Grundgesetzes kaum angewiesen. Man konnte zu einem Großteil aus den Beständen der eigenen Verfassungsgeschichte schöpfen. Insofern stechen der stete Rückblick und partielle Rückgriff auf die Weimarer Verfassung ebenso hervor wie die große ausstrahlende Kraft der Paulskirchenverfassung.[132] Diese eigene Grundrechts- und Verfassungstradition verdankte sich freilich immer schon einem intensiven Rezeptionsprozess der revolutionären Verfassungsdokumente der amerikanischen und französischen Revolution,[133] an deren Tradierung und Weiterentwicklung man erheblichen Anteil hatte.[134] Es handelte sich insgesamt um einen Vorgang der Wiederaneignung des zwischenzeitlich fremd gewordenen Eigenen, nicht um die Adaption des nun zum ersten Male als richtig erkannten Fremden.
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Von anderer Art war die Einflussnahme durch die Besatzungsmächte, die man nur in einem sehr besonderen Sinne als „ausländisch“ ansprechen und sachlich treffender als Einfluss fremder Hoheitsgewalt in Deutschland charakterisieren könnte. In den weichenstellenden Entscheidungen für Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus konvergierten die deutschen Vorstellungen mit jenen der Besatzungsmächte. Schon von daher geht es in die Irre, das Grundgesetz als „Oktroi“ der westlichen Alliierten zu bezeichnen.[135] Die meisten Interventionen betrafen die Ausgestaltung des Bund-Länder-Verhältnisses und liefen letztlich auf einen Kompromiss hinaus. Andere gezielte Eingriffe dürften letztlich