Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
aufstellt. Nur wenn diese „gerecht“ erscheinen, kann der Strafprozess insoweit zu einem gerechten Ergebnis führen; soweit sie als „ungerecht“ empfunden werden, bleibt dem Richter aufgrund der in Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG statuierten Gesetzesbindung nur ein geringer Spielraum, eine „gerechtere“ Entscheidung zu treffen. Weiterhin ist für eine gerechte, d.h. hier also „den jeweiligen Eigenarten des Täters angemessene“ Strafe neben der abstrakten Strafdrohung für ein bestimmtes Verhalten in den Tatbeständen des Besonderen Teils auch die Strafzumessung von Bedeutung; diese muss insbesondere die persönliche Vorwerfbarkeit beim Täter berücksichtigen, wie es in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB zum Ausdruck kommt. Da aber eine materiell strafrechtliche Norm nur das Verhalten gerecht sanktionieren soll und kann, das tatsächlich vorgelegen hat, und auch nur die Schuld Grundlage der Strafe i.S. des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB sein kann, die der Täter tatsächlich auf sich geladen hat, liegt auf der Hand, dass ein gerechtes Urteil grundsätzlich vor allem ein solches ist, dem die bestmöglich ermittelte Wahrheit zugrunde liegt.[29]
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Auseinanderlaufen könnten diese beiden Zielvorgaben, wenn im Interesse anderer Rechtsgüter auf die (vollständige) Wahrheitsermittlung bzw. -verwertung verzichtet wird (vgl. soeben Rn. 8). Denn darin könnte man zwar eine Einschränkung der Wahrheitserforschung, nicht aber der Suche nach Gerechtigkeit sehen, wenn man diese Einschränkungen gerade für „gerecht“ hält. Allerdings erscheint es sachgemäßer, als Anknüpfungspunkt für eine „gerechte“ Entscheidung nur das Tatgeschehen zu wählen (vgl. o.) und deshalb in den genannten Fällen zugleich einen Verzicht auf eine „gerechte“ Entscheidung anzunehmen, so dass es auch keine „Gerechtigkeit um jeden Preis“ gibt.[30] Auch die Gerechtigkeit umfasst damit nicht alle von einem Strafprozess potentiell betroffenen Interessen in dem Sinne, dass bei ihrer Beachtung keine Einbußen für andere Interessen mehr entstehen könnten. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe des Strafverfahrensrechts, die Anforderungen von Wahrheit und Gerechtigkeit mit dem Schutz der vom Strafprozess bedrohten Rechtsgüter in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.
4. Schutz kollidierender Rechtsgüter als eigenes Prozessziel?
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Die voranstehenden Überlegungen lassen einzelne Aspekte immer wieder als (monistische) Verfahrensziele deshalb nicht vorbehaltlos durchschlagen, weil Persönlichkeitsrechte der Betroffenen einer Realisierung dieses Zwecks bzw. einer Erreichung dieses Ziels entgegenstehen. Das legt die Frage nahe, ob nicht (auch) der Schutz dieser kollidierenden Persönlichkeitsrechte als ein Prozessziel betrachtet werden kann. Wenn man keinem gleichsam monistischen Modell über den Zweck des Strafverfahrens anhängt, ist es dabei auch nicht erforderlich, danach zu fragen, ob diese Interessen das eigentliche Prozessziel sind, sondern es genügt die Frage, ob sie einen Zweck des Strafverfahrens darstellen. Dieser Unterschied wirkt sich selbstverständlich auch auf die Beantwortung der Frage aus: Ein monistisches Modell müsste sie sehr schnell verneinen, weil z.B. die Rechtskraft in engen Ausnahmen wieder durchbrochen werden kann. Gleiches gilt ganz augenscheinlich auch für den Persönlichkeitsrechtsschutz, da im Strafverfahren geradezu typischerweise in die Rechtspositionen des Bürgers eingegriffen werden kann. Anders könnte man hier allenfalls entscheiden, wenn man im Sinne der Kernbereichsrechtsprechung[31] einen Persönlichkeitskern als unantastbar versteht und in diesem dann das eigentliche Prozessziel sehen würde. Freilich könnte eine Verengung des Strafprozesses auf einen so kleinen und in vielen Verfahren bedeutungslosen Bereich kaum überzeugen.
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Gegen die Betrachtung des Schutzes bedrohter Persönlichkeitsinteressen als Verfahrensziel spricht überdies, dass das Strafverfahren bestenfalls mittelbar (und auch nur sehr selten) gerade dafür durchgeführt wird, dass diese Rechte geschützt werden. Insofern kann man von ihnen kaum als Zweck des Strafverfahrens sprechen, sondern muss sie in Abgrenzung dazu als Aufgabe des Strafverfahrensrechts begreifen.[32] Spätestens dies macht deutlich, dass in einem konkreten Strafverfahren als tatsächlichem Lebensvorgang verschiedene Ziele des Verfahrens als Institution einerseits und des Verfahrensrechts als Regelung dieser Institution andererseits aufeinandertreffen. Schon deshalb muss das Strafverfahren samt der es regelnden Verfahrensnormen durch Zielkonflikte geprägt sein (vgl. auch sogleich Rn. 16 ff.).
5. Rechtsfrieden als Ziel des Strafverfahrens
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Einen Versuch, diese (und andere) Zielkonflikte mit Hilfe eines Meta-Prozessziels aufzulösen, hat namentlich Schmidhäuser mit seinem vielfach (allerdings wohl nicht immer inhaltsgleich[33]) rezipierten[34] Begriff des Rechtsfriedens unternommen. In diesem sieht er ein „letztlich (…) übergeordnetes Ziel“, indem ein Zustand geschaffen werden soll, „bei dem sich die Gemeinschaft über den Rechtsbruch beruhigen kann“,[35] d.h. mit dem Prozessausgang „zu-frieden sein kann“. Dieses Ergebnis wird in der Literatur vielfach zumindest insoweit übernommen, als der Rechtsfrieden als ein Ziel des Strafprozesses genannt wird.[36] Jedoch werden daneben noch andere Prozessziele genannt, und nicht zuletzt aus diesem Grund entsteht bei vielen Autoren der Eindruck, dass unter dem Begriff des Rechtsfriedens „nur“ die (von Schmidhäuser ja gerade nicht damit gleichgesetzte, vgl. o.) Rechtssicherheit gemeint wird.[37] Damit aber weichen – selbst bei Übernahme des Schmidhäuser’schen Begriffs – diese Autoren augenscheinlich vom offensichtlich wichtigen Grundgedanken ab, dass der Rechtsfrieden gerade andere Prozessziele mehr oder weniger aus- (bzw. ein-) schließt, da es eben nur ein letztes und eigentliches bzw. in den Worten Schmidhäusers: „letztlich (. . .) übergeordnetes Ziel“ geben könne.
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Ein wirklich operabler Ansatz ist damit freilich nicht geschaffen. Denn weil der „Rechtsfrieden“ in diesem Sinne kaum als empirisch-gesellschaftlicher Zustand, sondern als normative Größe verstanden werden muss, ist er letztlich von einer Abwägung abhängig, in die gerade die widerstreitenden Begriffe bzw. Interessen einbezogen werden müssen. Die Bezeichnung eines so gefundenen Ergebnisses als „Rechtsfrieden“ ist zwar plakativ, bringt aber keinen wirklich neuen Erkenntniswert. Vielmehr ist sie sogar geeignet, unbestreitbare Zielkonflikte innerhalb des Verfahrens zu camouflieren. Darüber hinaus ist aber die Bestimmung eines einzelnen, allen anderen übergeordneten Prozesszieles auch nicht erforderlich, da in vielen juristischen Bereichen allgemein anerkannt ist, dass es Zielkonflikte geben kann und dass zwischen verschiedenen Rechtsgütern eine Abwägung stattfinden und letztlich eine praktische Konkordanz hergestellt werden muss. Hierbei sieht man nicht das Ergebnis der praktischen Konkordanz (oder abstrakt diese selbst) als höheres Gut oder als Synthese der antinomischen Werte auf höherer Stufe; sondern die wechselseitigen Begrenzungen werden als bereits immanent angelegte Schranken der jeweiligen Rechtsgüter selbst betrachtet. Auch lassen sich aus einem Verfahrensziel „Rechtsfrieden“ keine verbindlichen Anhaltspunkte dafür gewinnen, wie im Einzelfall die Abwägung zwischen „Gerechtigkeit“ und „Rechtssicherheit“, zwischen „Wahrheit“ und „Persönlichkeitsschutz“ etc. ausfällt.[38] Die Abwägung muss vielmehr ausgehend von den widerstreitenden Begriffen in einem methodisch korrekten Vorgehen erfolgen. Bezeichnet man dann das so gefundene Ergebnis als „Rechtsfrieden“, mag das den Vorteil eines schlagkräftigen Namens für den Vorgang haben, bringt aber keinen neuen Erkenntniswert. Entscheidend sind vielmehr die konkreten Forderungen, die aus der Interessenabwägung abgeleitet werden.
III. Ziele, Zwischenziele und Zielkonflikte
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Mithin erscheint insgesamt vorzugswürdig, ein zentrales Ziel des Strafprozesses (als Institution) in der Verwirklichung des materiellen Strafrechts zu betrachten, welche freilich bereits mit bestimmten prozessualen Vorwertungen aufgeladen ist. Ein wichtiges Zwischenziel hierzu ist die Wahrheitsfindung (welche ihrerseits normativ etwa durch Persönlichkeits-