Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
die gleichen Ermittlungskompetenzen wie die Polizei in allgemeinen Strafsachen (vgl. § 404 AO). Soweit die verfolgte Tat entweder ausschließlich eine Steuerstraftat darstellt oder die verfolgte Tat Kirchensteuern oder andere öffentlich-rechtliche Abgaben betrifft, die an das Steuerverfahren anknüpfen, führt die Finanzbehörde das Ermittlungsverfahren nach § 386 Abs. 2 AO selbstständig durch. Damit hat sie zunächst die Stellung wie die Staatsanwaltschaft in allgemeinen Strafsachen. Diese Kompetenz zur selbstständigen Führung des Verfahrens endet allerdings, sobald gegen einen Beschuldigten wegen der Tat ein Haftbefehl oder ein Unterbringungsbefehl erlassen wird. Ferner kann die ermittelnde Finanzbehörde auch unabhängig davon die Strafsache jederzeit an die Staatsanwaltschaft abgeben (§ 386 Abs. 4 S. 1 AO), während umgekehrt auch die Staatsanwaltschaft ihrerseits das Verfahren jederzeit von sich aus an sich ziehen kann (sog. Evokationsrecht, § 386 Abs. 4 S. 2 AO).
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Gleichsam spiegelbildlich zu den Ermittlungsbefugnissen der sachnahen und inhaltlich kompetenten Finanzbehörden gibt es auch mögliche Erweiterungen auf Verteidigerseite: Nach § 392 Abs. 1 AO können (ergänzend neben einem Rechtsanwalt bzw. Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule mit Befähigung zum Richteramt, also ähnlich § 138 Abs. 1 StPO) Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer zu Verteidigern gewählt werden. Solange die Finanzbehörde nach § 396 Abs. 2 AO das Strafverfahren selbstständig durchführt, können die Steuerberater usw. auch als alleinige Verteidiger auftreten.
c) Phänomenologie und Verfahrensstruktur
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Steuerverfahren sind zwar nicht stets, aber zumindest in größeren Fällen häufig gleichsam „wirtschaftsstrafrechtstypisch“ durch lange Verfahren und komplexe, zahlreiche außerstrafrechtliche Vorfragen berührende Sachverhalte geprägt. Umfang wie Komplexität der Fälle, möglicherweise aber auch typische soziostrukturelle Merkmale der Steuerstraftäter und die „konsensuale Tradition“ des Steuerverfahrens („tatsächliche Verständigung“) führen dazu, dass gerade auch Steuerstrafverfahren ein wichtiges Anwendungsfeld für Verfahrensabsprachen – seien es solche nach § 257c StPO, seien es (für die Beschuldigten oft noch erstrebenswerter) solche im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren[138] – darstellen.
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Typisch ist ferner aufgrund der häufigen Parallelität mit dem Steuerverfahren und seinen vom Strafverfahren abweichenden Prinzipien (insb. in Gestalt von umfangreichen Mitwirkungspflichten, vgl. nur §§ 99 ff., 200 AO) ein Ziel- und vor allem Prinzipienkonflikt zwischen den beiden Verfahrensarten. Dies gilt in besonderem Maße mit Blick auf den strafrechtlichen Grundsatz der Freiheit von Selbstbelastung. Dieser Konflikt wird durch § 393 AO – mehr oder weniger erfolgreich – entschärft.[139] Nach dieser Vorschrift werden die Rechte und Pflichten der Verfahrensbeteiligten in beiden Verfahren unabhängig voneinander gestaltet, wobei aber auch im Steuerverfahren steuerrechtliche Zwangsmittel für unzulässig erklärt werden, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich wegen einer Steuerstraftat bzw. Ordnungswidrigkeit selbst zu belasten. Dies gilt nach § 393 Abs. 1 S. 3 AO insb. dann, wenn wegen der Tat gegen den Steuerpflichtigen ein Strafverfahren eingeleitet worden ist; hierüber ist der Steuerpflichtige nach § 393 Abs. 1 S. 4 AO zu belehren. Schließlich errichtet § 393 Abs. 2 AO eine „Verwendungssperre“ dahingehend, dass Erkenntnisse aus pflichtgemäß gemachten Angaben in den Steuerakten von den Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich nicht für andere als Steuerstraftaten verwertet werden dürfen, soweit an der Verfolgung nicht ein zwingendes öffentliches Interesse i.S. des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO besteht.[140]
a) Einordnung und Überblick
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Hinsichtlich des Verfahrens bei der Ahndung von Ordnungswidrigkeitentatbeständen ist zu unterscheiden: Soweit die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit Gegenstand eines Strafverfahrens ist (was nach §§ 40 ff. OWiG insb. immer dann der Fall ist, wenn die gleiche Tat als Straftat und als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden kann), gilt ganz selbstverständlich grundsätzlich die StPO. Eine Ausnahme gilt nur, wenn das Gericht die Anklage zur Hauptverhandlung nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Ordnungswidrigkeit zulässt, vgl. § 82 Abs. 2 OWiG; in solchen Fällen wird das Strafverfahren dann über die ordnungswidrigkeitenrechtlichen Vorschriften modifiziert.
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Geht es dagegen „nur“ um Ordnungswidrigkeiten, so ist das Bußgeldverfahren nach dem OWiG durchzuführen. Dieses verfügt zwar über eine Reihe von Sondervorschriften, verweist ergänzend aber in § 46 Abs. 1 OWiG ebenfalls (und zwar über weite Strecken) auf die – hier explizit nur „sinngemäße“ – Anwendung der Vorschriften der StPO. Vom Verweis ausgenommen sind insbesondere einige schwerwiegende Grundrechtseingriffe, vgl. § 46 Abs. 3 OWiG; andere Ausnahmen ergeben sich mehr oder weniger aus der Natur der Sache, so etwa das Fehlen einer notwendigen Verteidigung, da auf Ordnungswidrigkeiten a priori keine der Voraussetzungen des § 140 StPO anwendbar sein kann. Auch besteht keine Pflicht zur Teilnahme der Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nach § 226 StPO, da nach § 75 Abs. 1 S. 1 OWiG eine solche explizit nicht erforderlich ist.[141] Dagegen sind mangels eigener Vorschriften im OWiG etwa die strafprozessualen Regelungen über den Zeugenbeweis (§§ 48 ff. StPO), den Sachverständigen (§§ 72 ff. StPO) oder die Beweismittelsicherung (§§ 94 ff. StPO, 102 ff. StPO) anwendbar
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Auch ein Ordnungswidrigkeitenverfahren darf nur durchgeführt werden, solange keine Verfolgungsverjährung eingetreten ist (vgl. § 31 Abs. 1 S. 1 OWiG). Die Verjährungsfrist richtet sich hierbei gem. § 31 Abs. 2 OWiG nach dem Höchstmaß der angedrohten Geldbuße. Regelungen über das Ruhen und die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung finden sich in §§ 32 f. OWiG. Auch nach Eintritt der Verjährung kann die Anordnung eines Verfalls zulässig sein (§ 31 Abs. 1 S. 2 OWiG).
b) Das vorgeschaltete Verwaltungsverfahren
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Zuständig für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten sind nach § 35 Abs. 1, 2 OWiG zunächst die Verwaltungsbehörden. Die sachliche Zuständigkeit findet sich dabei oft in den speziellen Fachgesetzen (vgl. § 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG), während örtlich nach § 37 Abs. 1 OWiG die Verwaltungsbehörde zuständig ist, in deren Bezirk die Ordnungswidrigkeit begangen oder entdeckt worden ist bzw. der Betroffene zur Zeit der Einleitung des Bußgeldverfahrens seinen Wohnsitz hat. Soweit dadurch die örtliche Zuständigkeit mehrerer Behörden begründet wird, gilt insoweit das auch aus dem Strafverfahren bekannte Prioritätsprinzip, und auch hier gebührt nach § 39 Abs. 1 OWiG grundsätzlich derjenigen Verwaltungsbehörde der Vorzug, die sich zuerst mit der Sache dem Betroffenen gegenüber erkennbar befasst hat.[142] Darüber hinaus kann bei Gefahr im Verzug nach § 46 Abs. 1, 2 OWiG i.V.m. den einschlägigen Vorschriften der StPO bzw. des GVG jede sachlich zuständige Behörde ungeachtet der örtlichen Zuständigkeit tätig werden.
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Die Einleitung und die Durchführung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens bis hin zur Ahndungsentscheidung obliegen den soeben beschriebenen Behörden (so dass insoweit gewissermaßen die Inquisitionsmaxime gilt),[143] die ggf. Unterstützung durch die Polizei (vgl. § 53 OWiG) erfahren. Voraussetzung ist – wie ebenfalls aus dem Strafverfahren bekannt – nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 152 StPO das Vorliegen eines Anfangsverdachts. Demgegenüber wird die Staatsanwaltschaft in diesem Stadium nur tätig, wenn die Ordnungswidrigkeit mit einer von ihr verfolgten Straftat zusammenhängt (vgl. § 42 Abs. 1 S. 1 OWiG). Für die Verfügung der Ordnungswidrigkeit gilt nach § 47 OWiG insgesamt das Opportunitätsprinzip. Anders als für die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten (sog. Legalitätsprinzip) besteht für die Verwaltungsbehörden