Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
VII.Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit61, 62
VIII.Beschleunigungsgebot63, 64
IX.Verfassungsrechtliche Dimension weiterer Prozessmaximen65
A. Einführung[1]
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Strafrechtliche Ermittlungen und Sanktionen greifen in erheblichem Maße in die Grundrechte des Beschuldigten und weiterer Personen ein; sie dienen jedoch auch der Verteidigung und Bewahrung elementarer Schutzgüter Dritter. Kennzeichnend für den Strafprozess ist mithin das grundrechtsrelevante Spannungsverhältnis zwischen den Polen des Freiheitsschutzes durch die Strafgewalt und des Freiheitsschutzes gegen die Strafgewalt,[2] welches dem Strafverfahrensrecht zu Recht die Bezeichnung als „Seismograph der Staatsverfassung“[3] bzw. als „angewandtes Verfassungsrecht“[4] eingetragen hat. Die besondere verfassungsrechtliche Bedeutung der Materie findet ihren Niederschlag in einem konstant hohen Aufkommen von Verfassungsbeschwerden, die Entscheidungen aus dem Bereich der Strafgerichtsbarkeit angreifen,[5] sowie in einer Vielzahl bundesverfassungsgerichtlicher Senats- und Kammerentscheidungen, in denen strafprozessuale Fragen thematisiert werden.[6] Aus der verfassungsrechtlichen Aufladung des Strafverfahrens kann sich allerdings auch eine Versuchung ergeben, den funktionalen Eigenwert des Strafverfahrensrechts zu vernachlässigen und genuin strafverfahrensrechtliche Probleme vorschnell in die Kategorien des Verfassungsrechts zu überführen.[7]
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Das damit angesprochene, durchaus ambivalente Verhältnis zwischen einfachem Recht, Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den Grundrechten abgeleiteten Prozessmaximen bildet den Gegenstand dieses und des nachfolgenden Kapitels. Dabei wird sich die Darstellung weitgehend auf eine Wiedergabe und kritische Kommentierung der wesentlichen Leitlinien der Rechtsprechung des BVerfG zu Fragen des Strafprozessrechts beschränken müssen. Eine auch nur annähernd vollständige Rezeption des zu diesem Themengebiet veröffentlichten Schrifttums würde hingegen den zur Verfügung stehenden Rahmen deutlich überschreiten. Und wenngleich im europäischen Mehrebenensystem stets auch die Gewährleistungen der EMRK und der GRC mit zu bedenken sind,[8] kann diese Dimension im vorliegenden Zusammenhang aus Raumgründen ebenfalls lediglich punktuell Berücksichtigung finden. Für eine ausführliche Darstellung der europäischen Bezüge des Strafprozessrechts muss daher auf die einschlägigen Kapitel dieses Handbuches in Band IX verwiesen werden.
I. Dogmatische Grundlagen der Grundrechtsprüfung
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Vorab sind in der gebotenen Kürze die dogmatischen Grundlagen der Grundrechtsprüfung in Erinnerung zu rufen: Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Eingriffen in Freiheitsrechte[9] wird üblicherweise ein dreistufiger Aufbau zugrunde gelegt.[10] Nachdem auf einer ersten Stufe festgestellt wurde, ob der sachliche und der persönliche Schutzbereich des in Rede stehenden Grundrechts tangiert sind,[11] wird auf einer zweiten Stufe geklärt, ob durch die zu prüfende Maßnahme in den vorbezeichneten Schutzbereich eingegriffen wurde.[12] Bejahendenfalls ist auf einer dritten Stufe der Frage nachzugehen, ob der Eingriff durch Grundrechtsschranken gerechtfertigt werden kann.[13] Dieser dritte Prüfungsschritt beginnt mit der Frage nach einer möglichen Grundlage der Rechtfertigung in Gestalt eines Gesetzesvorbehalts oder kollidierenden Verfassungsrechts.[14] Die Anforderungen an die gesetzliche Grundlage ergeben sich dabei im Strafprozessrecht nicht aus Art. 103 Abs. 2 GG,[15] sondern aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG; ausf. → StPO Bd. 7: Michael Lindemann, Prozessgrundrechte und ihre Bedeutung, § 3 Rn. 41).[16] Sodann ist der Blick möglichen Schranken-Schranken zuzuwenden, zu denen insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zählt.[17] Dieser Grundsatz „verlangt, dass der Staat mit dem Grundrechtseingriff einen legitimen Zweck mit geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mitteln verfolgt“.[18] Die zu prüfende Maßnahme gilt nach der Rechtsprechung des BVerfG als zur Zweckerreichung geeignet, wenn mit ihrer Hilfe der erstrebte Erfolg zumindest gefördert werden kann.[19] Die Erforderlichkeit ist zu bejahen, wenn sich das angestrebte Ziel nicht durch mildere, gleich wirksame Mittel erreichen lässt.[20] Das Gebot der Angemessenheit bzw. der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn setzt schließlich voraus, „dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen darf“.[21] Bei der Bewertung der Eingriffsintensität ist gerade im vorliegend erörterten Zusammenhang ein mögliches additives Zusammenwirken mehrerer grundrechtsinvasiver Einzelmaßnahmen zu berücksichtigen.[22]
II. Die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege
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Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist der Ort, an welchem die im Strafprozess in besonderer Schärfe aufeinandertreffenden Interessen des Individuums und der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen und zu einem möglichst schonenden Ausgleich – die Grundrechtsdogmatik spricht in diesem Zusammenhang von der „Herstellung praktischer Konkordanz“[23] – zu bringen sind. Dabei lässt die jüngere Rechtsprechung des BVerfG eine bedenkliche Tendenz zur einseitigen Überbetonung von Strafverfolgungsinteressen erkennen, die argumentativ durch die (inzwischen zum regelmäßigen Bestandteil einschlägiger Entscheidungen gewordene) Bezugnahme auf die „Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege“ unterfüttert wird.[24] Ausdrückliche Erwähnung fand die Funktionstüchtigkeitsformel erstmals in einer Entscheidung des Ersten Senats aus dem Jahr 1972;[25] nachdem es eine Zeit lang ruhiger um sie geworden war, hat sie in der Rechtsprechung des Gerichts zuletzt eine bemerkenswerte Renaissance erfahren.[26] Gefahren für die Grundrechtspositionen des Beschuldigten ergeben sich bei einem Einsatz der Formel als Argumentationstopos im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung[27] vor allem aufgrund ihrer inhaltlichen Vagheit und Maßstabslosigkeit[28] sowie aus der Überhöhung, die sie durch ihre Fundierung in so grundlegenden Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit erfährt.[29] Ihre vermehrte Verwendung in der Rechtsprechung des BVerfG leistet einer Marginalisierung der Beschuldigtenrechte Vorschub und beeinflusst das fragile Kräfteverhältnis im Strafprozess einseitig zugunsten der Strafverfolgungsbehörden.[30]
III. Folgen verfassungswidriger Grundrechtseingriffe
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Eng mit der vorstehend behandelten Problematik des Einsatzes der Funktionstüchtigkeitsformel als Abwägungstopos verknüpft ist die Frage, welche Konsequenzen Rechtsverstöße der Strafverfolgungsbehörden bei der Beweiserhebung von Verfassungs wegen nach sich ziehen sollten. Ein konsistentes dogmatisches System, dem sich überzeugende Leitlinien zu den Voraussetzungen und der Reichweite unselbstständiger, d.h. auf einen Beweiserhebungsfehler folgender Beweisverwertungsverbote entnehmen ließen, existiert bislang nicht.[31] Der BGH vertritt hierzu in ständiger Rechtsprechung die sog. Abwägungslösung, nach der über das Eingreifen eines Beweisverwertungsverbotes jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden ist.[32] Diese Vorgehensweise hat die ausdrückliche Billigung des BVerfG erfahren, das seine Begründung maßgeblich auf die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (vgl.