Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
Vorgehensweise auf berechtigte Kritik gestoßen;[366] ihr wird – neben der grundsätzlichen Fragwürdigkeit der Umkehrung einer Prozessmaxime gegen den primär von ihr Begünstigten – zutreffend entgegengehalten, dass sich ein Strafprozess, der rechtsstaatlichen Anforderungen genügen soll, nur begrenzt beschleunigen lässt.[367] Er bedarf der konsequenten Einhaltung einer dialogischen Struktur und der Ausstattung der Verfahrensbeteiligten mit (durchsetzbaren) Antrags-, Frage- und Erklärungsrechten; denn erst die Gelegenheit, in regelgeleiteter Auseinandersetzung[368] über den verfahrensgegenständlichen Vorwurf zu streiten, vermag die abschließende richterliche Erkenntnis, die sich mit den divergierenden Sachverhaltsschilderungen in den Urteilsgründen (§ 267 StPO) auseinanderzusetzen und ihren Widerstreit zu entscheiden hat, mit einem hinreichend tragfähigen legitimatorischen Fundament auszustatten.[369] Eine besondere, die Amtsaufklärungspflicht der staatlichen Akteure komplementierende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Recht des Angeklagten zu, durch die Stellung von Beweisanträgen ein von den Annahmen der Anklagebehörde und des Gerichts abweichendes Vorverständnis in den Prozess der Sachverhaltsfeststellung einzubringen. Der enumerative Charakter der in § 244 Abs. 3 StPO normierten Ablehnungsgründe erweist sich vor diesem Hintergrund als wesentliche Stütze für den durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Subjektstatus des Beschuldigten.[370]
IX. Verfassungsrechtliche Dimension weiterer Prozessmaximen
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Nur kurz soll hier noch auf die verfassungsrechtliche Dimension weiterer das deutsche Strafverfahren prägender Prozessmaximen eingegangen werden.[371] So stellt etwa das einfachrechtlich in §§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO verankerte Legalitätsprinzip nach Ansicht des BVerfG eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) dar; hinzu treten gleichheits-, abwehr- und schutzpflichtenrechtliche Implikationen.[372] Eine grundsätzlich verfassungskonforme[373] Einschränkung erfährt das Legalitätsprinzip u.a. durch die Vorschriften über die Einstellung aus Opportunitätsgründen (§§ 153 ff. StPO); insofern belegen allerdings Berichte aus der Praxis einen häufigen Missbrauch insbesondere der Einstellung unter Auflagen (§ 153a StPO), der sich teilweise zugunsten,[374] zum Teil jedoch auch zuungunsten der Beschuldigten[375] auswirkt. Auch hinsichtlich der Grundsätze der Öffentlichkeit, der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit ist nach anfänglicher Zurückhaltung des BVerfG[376] inzwischen eine verfassungsrechtliche Dimension anerkannt, die darin zum Ausdruck kommt, dass abweichende Gestaltungen, die Durchbrechungen der in Rede stehenden Prinzipien vorsehen, auf ihre Vereinbarkeit mit den Mindeststandards eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens untersucht werden.[377]
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