Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
Entscheidung „mitgewirkt“,[124] wohl aber ein Richter, der an der Entscheidung über die Revision gegen das Urteil beteiligt war.[125] Die abweichende Meinung zur erstgenannten Entscheidung macht durchaus überzeugend geltend, der Ergänzungsrichter wirke über die mit der (passiven) Rezeption des Verfahrensganges zwangsläufig verbundene innere Beteiligung hinaus durch die Ausübung oder Nichtausübung des Fragerechts[126] auch aktiv auf den Prozessstoff ein und erscheine daher aus der Perspektive des Angeklagten nicht mehr als „neutral, distanziert, unbeteiligt“.[127] Die innere und äußere Beteiligung am Zustandekommen der Ausgangsentscheidung weckt in der Tat berechtigte Zweifel an der Fähigkeit des früheren Ergänzungsrichters zu einer unvoreingenommenen Mitwirkung am Wiederaufnahmeverfahren.[128] Diese Zweifel gelten erst recht für die erneute Sachbefassung eines Richters, der an einer vom Revisionsgericht aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hat. Die höchstrichterliche Rechtsprechung steht gleichwohl auf dem Standpunkt, dass der vorbefasste Richter nicht „automatisch“ von der Mitwirkung an der erneuten Hauptverhandlung ausgeschlossen ist und konstatiert, es bestehe „kein Grund zu der Besorgnis, Richter könnten schon allein deshalb voreingenommen sein, weil ihr Urteil aufgehoben worden ist“.[129] Die Gewährung eines derartigen Vertrauensvorschusses erscheint aus sozialpsychologischer Perspektive wenig plausibel.[130]
3. Pflicht zur Kompetenzbeachtung
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Als Pflicht zur Kompetenzbeachtung[131] lässt sich schließlich eine dritte Dimension des Gewährleistungsgehaltes des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG identifizieren: Der Pflicht des Gesetzgebers, die richterliche Zuständigkeit so eindeutig wie möglich durch allgemeine Normen zu regeln, korrespondiert eine Bindung der Gerichte an diese Regelungen; diese „dürfen sich nicht über (die Zuständigkeitsregeln) hinwegsetzen, sondern haben von sich aus über deren Einhaltung zu wachen“.[132] Bedeutung erlangt diese Schutzdimension des Rechts auf den gesetzlichen Richter beispielsweise in Fällen der Nichterfüllung einfachgesetzlicher und verfassungsrechtlicher Vorlagepflichten. So hat das BVerfG eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darin gesehen, dass ein Oberlandesgericht eine Vorlage gem. § 121 Abs. 2 GVG zum BGH unterließ, obwohl es von einer Entscheidung dieses Gerichts abwich.[133] In einer neueren Entscheidung hat der BGH konstatiert, dass der durch § 6 Abs. 1 S. 1 MuSchG i.V.m. § 2 HRiG, § 95 Nr. 1 HBG und § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 HMu-SchEltZVO vermittelte nachgeburtliche Mutterschutz nicht zur Disposition der betroffenen Richterin steht. Wirke diese gleichwohl an einer Entscheidung mit, so liege hierin ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.[134] In Reaktion auf diese Entscheidung hat der Gesetzgeber in § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO eine Hemmung der Unterbrechungsfristen für länger als zehn Tage dauernde Hauptverhandlungen auch für den Fall angeordnet, dass eine zur Urteilsfindung berufende Person wegen gesetzlichen Mutterschutzes oder der Inanspruchnahme von Elternzeit nicht zur Hauptverhandlung erscheinen kann.[135]
II. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
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Als „prozessuales Urrecht“ wird der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör bezeichnet.[136] Im besonders eingriffsintensiven Strafverfahren kommt der Gewährung rechtlichen Gehörs ersichtlich besondere Bedeutung zu.[137]
1. Anwendungsbereich, Anspruchsberechtigte und Gewährleistungsgehalt
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Ausschlaggebend für die verfassungsrechtliche Garantie ist der Gedanke, dass jeder an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligte die Gelegenheit erhalten muss, durch sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen.[138] Auf die Situation des Beschuldigten im Strafverfahren gewendet bedeutet dies, dass er die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muss, „auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen“.[139] Anspruchsberechtigt ist jedoch nicht nur der Beschuldigte, sondern grundsätzlich jeder, der von der gerichtlichen Entscheidung betroffen werden kann,[140] mithin etwa auch der Nebenkläger und der Privatkläger.[141] Die Staatsanwaltschaft kann sich hingegen nach zutreffender Ansicht lediglich auf die ihr einfachgesetzlich eingeräumten Ansprüche auf Gehörsgewährung berufen.[142]
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Die Gewährung rechtlichen Gehörs dient der Stärkung der Subjektstellung der Verfahrensbeteiligten und soll verhindern, dass diese zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden;[143] sie erweist sich damit als Ausprägung der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) und ist zugleich Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG).[144] Aus dem Vorstehenden ergibt sich eine Doppelstruktur des Art. 103 Abs. 1 GG, der zum einen ein subjektives Recht des Grundrechtsträgers begründet und zum anderen ein objektiv-rechtliches Prinzip normiert, welches elementare Mindeststandards für gerichtliche Verfahren unter der Geltung des Grundgesetzes sichert.[145] Für den Gesetzgeber ergibt sich hieraus eine Pflicht zur Gewährleistung der durch Art. 103 Abs. 1 GG geforderten Mindeststandards, deren Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann.[146] Jenseits dieser rechtsstaatlichen Mindeststandards wird rechtliches Gehör nach Maßgabe des einfachen Rechts gewährt; das BVerfG prüft hier im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens lediglich, ob die Bedeutung des Art. 103 Abs. 1 GG bei der Anwendung des einfachen Rechts verkannt worden ist.[147] Neben dem Gesetzgeber bindet Art. 103 Abs. 1 GG ausschließlich die Gerichte, nicht hingegen die Strafverfolgungsbehörden, deren verfassungsrechtliche Pflicht, dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren rechtliches Gehör zu gewähren, sich jedoch unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt.[148]
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Wie bereits dargelegt, soll der Anspruch auf rechtliches Gehör sicherstellen, dass grundsätzlich in einer gerichtlichen Entscheidung kein Tatsachenstoff verwertet wird, zu dem der von ihm Betroffene nicht vollständig und in Kenntnis seiner potentiellen rechtlichen Bedeutung hat Stellung nehmen können; darüber hinaus folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG auch ein Anspruch darauf, dass die Stellungnahme des Verfahrensbeteiligten inhaltlich vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung berücksichtigt wird.[149] Aus dem Gesagten lassen sich drei „Verwirklichungsstufen“[150] des Anspruches aus Art. 103 Abs. 1 GG ableiten, die auch bei der Ausgestaltung der Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren zu berücksichtigen sind: Im Zentrum steht das Äußerungsrecht, für dessen effektive Wahrnehmung der Verfahrensbeteiligte auf die vorherige Information über den rechtlich relevanten Verfahrensstoff angewiesen ist. Darüber hinaus besteht eine Pflicht des Gerichts, das durch den Verfahrensbeteiligten Geäußerte bei seiner Entscheidung auch zu berücksichtigen.[151]
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Als Vorwirkung aus Art. 103 Abs. 1 GG besteht mithin zunächst ein Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf Information über alle tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung, durch die er beschwert sein kann.[152] Werden strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren gem. § 33 Abs. 4 StPO ohne vorherige Anhörung des Betroffenen gerichtlich angeordnet, so ist das rechtliche Gehör jedenfalls im Beschwerdeverfahren nachträglich zu gewähren; hier darf die Beschwerdeentscheidung nicht ergehen, bevor die aus sachlichen Gründen zunächst verwehrte Akteneinsicht gewährt wurde und der Beschwerdeführer sich umfassend äußern konnte (vgl. für die Entscheidung über die Anordnung bzw. Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft § 147 Abs. 2 S. 2 StPO).[153] Zu einem „Rechtsgespräch“ ist das Gericht hingegen nach herrschender Meinung nicht verpflichtet; jedoch trifft das Gericht nach zutreffender Ansicht eine Pflicht, die Verfahrensbeteiligten auch auf rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, wenn dies für eine effektive Wahrnehmung des Äußerungsrechts erforderlich erscheint.[154] Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG hat das BVerfG daher zu Recht auch darin gesehen, dass das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte.[155] Einfachgesetzliche Ausprägungen dieses Anspruches