Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO lautenden Prozessurteil zugrunde, welches daher auch keinen Strafklageverbrauch bewirkt.[253] Gerichtliche Einstellungsbeschlüsse gem. § 153 Abs. 2 StPO und § 153a Abs. 2 StPO sowie Nichteröffnungsbeschlüsse gem. § 211 StPO lösen ebenfalls nicht die Rechtsfolge des Art. 103 Abs. 3 GG, sondern lediglich eine eingeschränkte Sperrwirkung aus.[254] Auch Opportunitätseinstellungen der Staatsanwaltschaft bewirken nur im einfachgesetzlich normierten Ausnahmefall (vgl. § 153a Abs. 1 S. 5 StPO) einen begrenzten Strafklageverbrauch.[255]
4. Europarechtliche Dimension des Strafklageverbrauchs
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Der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG ist schließlich nach vorherrschender Lesart auf Entscheidungen deutscher Gerichte beschränkt.[256] Eine Regelung für grenzüberschreitende Sachverhalte findet sich jedoch in Art. 54 SDÜ, der bestimmt, dass, wer durch eine Vertragspartei des Schengener Durchführungsübereinkommens rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat[257] nicht verfolgt werden darf, wenn im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Der Begriff der „rechtskräftigen Aburteilung“ i.S.d. Art. 54 SDÜ hat eine extensive Auslegung durch den EuGH erfahren; dieser hat hierunter beispielsweise auch einen Vergleich zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten nach niederländischem Recht (sog. transactie) sowie die staatsanwaltschaftliche Einstellungsentscheidung nach § 153a Abs. 1 StPO subsumiert.[258] „Bereits vollstreckt“ i.S.d. Art. 54 SDÜ ist die Sanktion beispielsweise nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe, nach Zahlung einer Geldstrafe oder nach der Erfüllung von Auflagen.[259] Eine Bewährungsstrafe wird „gerade vollstreckt“, sobald die Strafe vollstreckbar geworden ist und die Bewährungszeit andauert; nach Ablauf der Bewährungszeit gilt die Strafe als „bereits vollstreckt“.[260] Gründe, aus denen eine Sanktion „nicht mehr vollstreckt werden kann“, sind zum Beispiel Verjährung, Amnestie, Begnadigung oder auch der Erlass einer Bewährungsstrafe.[261] Wenn die Vollstreckung der Sanktion dagegen aus tatsächlichen Gründen (etwa Flüchtigkeit oder unbekannter Aufenthalt des Beschuldigten) nicht möglich ist, tritt kein Strafklageverbrauch gem. Art. 54 SDÜ ein.[262] Die Sanktion gilt auch dann als „nicht mehr vollstreckbar“, wenn sie nach dem nationalen Verfahrensrecht des erstverfolgenden Staates zu keinem Zeitpunkt vollstreckbar war.[263]
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Eine weitere Vorschrift zum transnationalen Strafklageverbrauch findet sich nunmehr in Art. 50 GRC, der auf das in Art. 54 SDÜ enthaltene „Vollstreckungselement“ verzichtet: Danach darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.[264] Während ein Teil des Schrifttums nach dem Inkrafttreten der Grundrechte-Charta von einer Verdrängung des Art. 54 SDÜ durch Art. 50 GRC ausging, die eine Prüfung des Standes der Strafverfolgung obsolet machen würde,[265] sieht die deutsche und europäische Rechtsprechung in Art. 54 SDÜ eine Schranke des Art. 50 GRC, weshalb das „Vollstreckungselement“ weiter zu beachten sei. Zur Begründung wird auf die Materialien der Charta sowie auf Art. 52 GRC Bezug genommen; diesem komme in grundrechtsdogmatischer Hinsicht die Funktion einer Schranken-Schranke zu, was wiederum die Möglichkeit von Grundrechtsschranken impliziere.[266]
V. Rechtsgarantien bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen (Art. 104 GG)
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Art. 104 GG regelt die formellen Rechtsgarantien bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen. In der Vorschrift, die auf eine lange Grundrechtstradition zurückblicken kann,[267] sind verschiedene Garantien zusammengefasst: Während Art. 104 Abs. 1 GG für alle Freiheitsbeschränkungen ein förmliches Gesetz als Befugnisnorm verlangt (Satz 1) und ein Verbot der seelischen und körperlichen Misshandlung festgehaltener Personen ausspricht (Satz 2), verlangt Art. 104 Abs. 2, 3 GG für Freiheitsentziehungen (zu denen die in Absatz 3 erwähnte vorläufige Festnahme lediglich einen Unterfall darstellt[268]) grundsätzlich eine richterliche Entscheidung, von der gem. Art. 104 Abs. 3 GG unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen ist.
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Die in Art. 104 GG normierten Gewährleistungen der Freiheit stehen in engem Zusammenhang mit der materiellen Freiheitsgarantie aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG[269] und ergänzen diese um Elemente der Grundrechtssicherung durch Verfahren.[270] Wie bei Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG umfasst der personelle Schutzbereich des Art. 104 GG alle natürlichen Personen.[271] Auch der sachliche Schutzbereich des Art. 104 GG ist identisch mit dem des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; eine Ausnahme bildet insoweit nur das in Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG normierte Misshandlungsverbot, welches das Grundrecht auf körperliche Integrität (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verstärkt.[272] Die übrigen Gewährleistungen des Art. 104 GG bezwecken wie Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG den Schutz der körperlichen Bewegungsfreiheit vor Beeinträchtigungen durch unmittelbaren Zwang.[273]
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Zwischen der Freiheitsbeschränkung i.S.d. Art. 104 Abs. 1 GG und der Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2–4 GG besteht nach einhelliger Auffassung ein Stufenverhältnis, wobei die Freiheitsentziehung den schwersten Fall der Freiheitsbeschränkung bildet und die Begriffe nach der Intensität des Eingriffes abzugrenzen sind.[274] Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist von einer Freiheitsbeschränkung immer schon dann auszugehen, „wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist“, während die Annahme einer Freiheitsentziehung voraussetzt, dass „die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird“.[275] Ausschlaggebend für die Einordnung als Freiheitsentziehung ist allein der Erfolg, der darin besteht, dass eine Person durch öffentliche Gewalt am Verlassen eines Ortes gehindert wird; hingegen kommt es nicht darauf an, ob dieser Erfolg mit mechanischen, chemisch wirkenden oder sonstigen Mitteln erreicht wird.[276] Neben der Straf- und Untersuchungshaft, der einstweiligen Unterbringung gem. § 126a StPO sowie der Unterbringung in einer Maßregel der Besserung und Sicherung gem. §§ 63 ff. StGB[277] ist etwa auch das mehrstündige Festhalten einer Person in einer polizeilichen Gewahrsamszelle zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen als Freiheitsentziehung i.S.d. Art 104 Abs. 2 GG qualifiziert worden.[278] Mit Urteil vom 24. Juli 2018 hat der Zweite Senat des BVerfG entschieden, dass jedenfalls die nicht nur kurzfristige 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung eines öffentlich-rechtlich untergebrachten Patienten, bei der sämtliche Gliedmaßen des Betroffenen mit Gurten am Bett festgebunden werden, eine (zu der Unterbringung hinzutretende) Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 GG darstellt, die nur zulässig ist, wenn eine spezielle gesetzliche Grundlage hierfür gegeben ist, die den Vorgaben des Art. 104 Abs. 2 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.[279] Als Beispiel für eine bloße Freiheitsbeschränkung i.S.d. Art. 104 Abs. 1 GG werden auf § 56c StGB bzw. § 10 JGG gestützte Aufenthalts- und Betretensverbote genannt; bloße Handlungspflichten wie die Pflicht des Angeklagten zur Teilnahme an der Hauptverhandlung gem. §§ 230 ff. StPO tangieren demgegenüber lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).[280]
1. Vorbehalt des förmlichen Gesetzes
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Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG stellt Freiheitsbeschränkungen unter den Vorbehalt eines förmlichen Gesetzes und der Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen. Die Vorschrift greift damit den schon in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG normierten Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn dergestalt, dass die Einhaltung der Formvorschriften des freiheitsbeschränkenden Gesetzes zum Verfassungsgebot erhoben wird. Ihre Verletzung stellt mithin einen Verfassungsverstoß dar, gegen den der Betroffene mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen kann.[281] Dies trifft nach einer Kammerentscheidung des BVerfG beispielsweise auch auf das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot zu, die Aussetzung