Handbuch des Strafrechts. Manuel Ladiges
im vorliegenden Zusammenhang näher zu erörtern sind.
1. Begriff der Tat
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Eine erneute Strafverfolgung schließt Art. 103 Abs. 3 GG nur wegen „derselben Tat“ aus. Ausschlaggebend für die Einordnung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG „der geschichtliche Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll“; es soll auf den „nach natürlicher Auffassung zu beurteilenden einheitlichen Lebensvorgang“ abzustellen sein.[217] Das Gericht orientiert sich damit im Ausgangspunkt[218] am (vorkonstitutionell herausgebildeten[219]) strafprozessualen Tatbegriff, der auch den §§ 155, 264 StPO zugrunde liegt und nicht deckungsgleich mit dem materiell-rechtlichen Tatbegriff i.S.d. §§ 52, 53 StGB ist.[220]
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Die durch das BVerfG favorisierte natürliche Betrachtungsweise belässt naturgemäß Auslegungsspielräume, die Inkonsistenzen in der Rechtsprechung des Gerichts zum Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG begünstigt haben.[221] So soll beispielsweise die wiederholte Nichtbefolgung der Einberufung zum zivilen Ersatzdienst als „eine Tat“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG anzusehen sein, wenn ihr eine fortdauernde und ernsthafte, an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Gewissensentscheidung des Täters zugrunde lag.[222] In einem gewissen Kontrast zu dieser eher großzügigen Interpretation stehen Judikate, in denen der Tatbegriff tendenziell restriktiver ausgelegt wurde: Zur Annahme mehrerer prozessualer Taten gelangte das BVerfG etwa bzgl. der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) und der in Verfolgung der Ziele dieser Vereinigung verwirklichten Verbrechen (konkret: Mord bzw. Beihilfe zum Mord)[223] sowie bzgl. der wiederholten Entziehung der Kinder von der Schulpflicht (§ 182 Abs. 1 des Hessischen Schulgesetzes).[224] Nach Ansicht des Gerichts soll einerseits im Falle der Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen – trotz des Vorliegens von Tatmehrheit gem. § 53 StGB – „dieselbe Tat“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG anzunehmen sein; andererseits sollen beim Zusammentreffen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und der Verwirklichung von Verbrechenstatbeständen – ungeachtet der Annahme von Tateinheit gem. § 52 StGB[225] – mehrere Taten i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG gegeben sein.[226] Zur Rechtfertigung dieses mäandernden Kurses weist das BVerfG darauf hin, dass die Rechtsbegriffe der Tateinheit und der Tatidentität unterschiedliche Zwecke verfolgen: Während die §§ 52 ff. StGB die Bildung des Schuld- und Strafausspruches behandelten und auf das Ziel bestmöglicher Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ausgerichtet seien, bezwecke der Begriff der Tatidentität i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG ausschließlich, die Grenzen der materiellen Rechtskraft abzustecken.[227] In der Entscheidung zur Ersatzdienstverweigerung konstatierte das Gericht darüber hinaus, die von Art. 103 Abs. 3 GG ausgehende Sperrwirkung sei nur erträglich, „wenn der Umfang des prozessualen Tatbegriffs nicht über jedes Maß hinaus ausgedehnt wird“.[228]
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Dass die Ablösung des verfassungsrechtlichen Tatbegriffes von den Wertungen des materiellen Rechts damit vor allem auf Gerechtigkeitserwägungen gestützt wird, erscheint bedenklich, wenn man sich erneut vor Augen führt, dass der Verfassungsgeber den allfälligen Konflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit in Art. 103 Abs. 3 GG eindeutig und ausnahmslos zugunsten ersterer aufgelöst hat.[229] Ungeachtet dessen wurde die Asynchronität von Tateinheit und Tatidentität (sog. prozessrechtliche Lösung) in der Folgezeit von der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch auf das Zusammentreffen von unerlaubtem Waffenbesitz und Kapitaldelikt übertragen,[230] bevor der BGH schließlich in derartigen Fällen zur Annahme von Tatmehrheit gem. § 53 StGB (und auf dieser Grundlage zur Bejahung zweier Taten im prozessualen Sinn) gelangte (sog. materiellrechtliche Lösung).[231] Mit Beschluss vom 9. Juli 2015 hat der 3. Strafsenat des BGH nunmehr für alle im Rahmen einer kriminellen Vereinigung erbrachten mitgliedschaftlichen Beteiligungsakte, die zugleich andere Strafgesetze verletzen, Tatmehrheit gem. § 53 StGB und (gleichlaufend) selbstständige prozessuale Taten angenommen.[232]
2. Sanktionen nach allgemeinen Strafgesetzen
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Das in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Verbot der Doppelbestrafung betrifft lediglich die wiederholte Bestrafung aufgrund „allgemeiner Strafgesetze“. Mit dieser Formulierung zielte der historische Verfassungsgeber ausschließlich auf das Kriminalstrafrecht – d.h. das Kern- und Nebenstrafrecht – ab,[233] nicht hingegen auf das Berufsstraf- und Standesrecht[234] sowie das Dienst-, Ordnungs- und Polizeistrafrecht.[235] Auch die Verhängung von Jugendarrest wegen Verstoßes gegen eine Bewährungsauflage ist danach keine Sanktion aufgrund eines „allgemeinen Strafgesetzes“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG.[236] Präventive Maßnahmen der Verwaltung wie der Entzug der Fahrerlaubnis mögen zwar unter Umständen ähnlich intensiv in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen wie die Kriminalstrafe, verfolgen jedoch andere Zwecke und unterfallen infolgedessen ebenfalls nicht dem Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG.[237]
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Keine „Strafgesetze“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG sind nach der Rechtsprechung des BVerfG auch die Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts.[238] Eine verbreitete Schrifttumsansicht hält dem zu Recht entgegen, dass die Zuordnung zum Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht durch den Gesetzgeber häufig eher zufällig erfolgt, und dass viele Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts bei der Entstehung des Grundgesetzes noch Strafgesetze waren; Art. 103 Abs. 3 GG soll daher zumindest analog auch im Ordnungswidrigkeitenrecht anzuwenden sein (vgl. einfachgesetzlich auch §§ 56 Abs. 4, 84, 85 OWiG).[239] Grundsätzliche Zustimmung verdient die Feststellung, dass disziplinarrechtliche Sanktionen nicht in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG fallen;[240] zu beachten ist jedoch, dass sich auch aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) allgemeine Grenzen einer doppelten Sanktionierung ergeben können.[241] Nach zutreffender Ansicht ist daher eine wegen „derselben Tat“ bereits verhängte Disziplinarmaßnahme im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.[242]
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Nicht erfasst werden von Art. 103 Abs. 3 GG schließlich nach herrschender Meinung auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung.[243] Über die Einordnung der Sicherungsverwahrung ist allerdings zuletzt aus Anlass des nachträglichen Wegfalls der 10-Jahres-Höchstgrenze bei erstmalig angeordneter Sicherungsverwahrung und der Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung Streit entstanden. Während der EGMR mit Blick auf die Garantien des Gesetzlichkeitsprinzips aus Art. 7 Abs. 1 EMRK einen autonomen, nicht an die Wertungen des mitgliedsstaatlichen Rechts gebundenen Strafbegriff vertritt,[244] hält das BVerfG an der formalen Zweispurigkeit des deutschen Sanktionensystems fest und spricht der Sicherungsverwahrung konsequent den Strafcharakter i.S.d. Art. 103 GG ab.[245] Unter dem Eindruck der Rechtsprechung des EGMR hat das Gericht jedoch Maßnahmen zur Sicherung des Abstandsgebotes angemahnt und dem Gesetzgeber das Programm eines freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzuges diktiert (vgl. dazu nunmehr § 66c Abs. 1 StGB).[246]
3. „Mehrfache Bestrafung“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG
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Wie bereits eingangs dargelegt, begründet Art. 103 Abs. 3 GG ein Verfahrenshindernis und schließt damit nicht nur die mehrfache Bestrafung, sondern bereits die erneute Einleitung eines Strafverfahrens aus.[247] Die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten bereitet wegen ihres ausschließlich begünstigenden Charakters keine Probleme; jedoch ist auch die Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten unter den engen, in § 362 StPO normierten Voraussetzungen mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar.[248] Eine Erweiterung der bestehenden Wiederaufnahmegründe wird allerdings zu Recht für unzulässig erachtet.[249]
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Für die Auslösung der Sperrwirkung des Art. 103 Abs. 3 GG ist ausschlaggebend, dass der staatliche Strafanspruch in der vorausgegangenen Entscheidung ein Mindestmaß an substantieller und prozessualer Klärung erfahren hat.[250] Dies ist zunächst unstreitig sowohl beim verurteilenden als auch beim freisprechenden