Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen. Matthias Jahn
überprüft in diesen Fällen auch, „ob jene Entscheidung bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die Meinungsfreiheit verletzt haben. Bei Äußerungsdelikten können schon die tatsächlichen Feststellungen des erkennenden Gerichts eine solche Verletzung enthalten“.[25] Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit seien verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik einstufen mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind. Sachverhaltsfeststellungen und Rechtsanwendungen dieses Inhalts könnten den Zugang zu dem grundrechtlich geschützten Bereich von vornherein verstellen. Daher müssten sie dem BVerfG in vollem Umfang nachprüfbar sein, wenn der Schutz der Meinungsfreiheit nicht unzuträglich verkürzt werden solle.[26] Eine derart extensive Auslegungspraxis in einzelnen grundrechtlich geschützten Sphären ist mit Blick auf die verfassungsrechtlich veranlasste Aufgabenteilung zwischen Fach- und Verfassungsgericht, die größere Sachnähe der Fachgerichte und die dadurch zum Teil „hausgemachte“ Überlastung des BVerfG nicht ohne – in der Regel scharfe, teils polemische und nicht ganz selten ersichtlich politisch motivierte – Kritik geblieben, die teils auch ins Grundsätzliche gewendet wird.[27] Sie mag hier auf sich beruhen.[28]
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• | Auch bei der Rüge der Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes des Art. 103 Abs. 2 GG verdichtet sich der Prüfungsmaßstab zunehmend.[29] Das ist insbesondere im Bereich des notorisch unbestimmten Untreuetatbestands praxiswirksam geworden.[30] Neben der Überprüfung der Bestimmtheit der Strafnormen tritt hier die Überprüfung des von Verfassungs wegen zu fordernden Konturierungsniveaus der fachgerichtlichen Rechtsprechung. Dies gilt umso mehr, je offener ein Tatbestand formuliert ist. Saliger[31] erkennt hier drei Anforderungen: ein allgemeines Rechtsunsicherheitsminimierungsgebot, ein Präzisierungsgebot und das Gebot, dass bei offenen Tatbeständen eine gefestigte Rechtsprechung nur unter besonders zurückhaltend geändert werden solle. |
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Hinweis
Obgleich das BVerfG in der Vergangenheit[32] im Einzelfall auch die Verletzung nicht gerügter und dem Beschwerdeführer an sich nicht zustehender Grundrechte geprüft hat, darf daraus nun nicht geschlossen oder sogar darauf „gebaut“ werden, dass das Gericht von seinen „erweiterten Kompetenzen“ im Einzelfall auch zugunsten des Beschwerdeführers Gebrauch machen wird. Das Gegenteil ist im Zweifel richtig. Zudem steigen die Darlegungs- und Substantiierungslasten dann, wenn ein Verhalten bzw. ein zur Prüfung gestellter Sachverhalt sich nicht eindeutig einem bestimmten grundrechtlich geschützten Bereich zuordnen lässt.[33] Diese generalklauselartige Formulierung lässt dem Gericht im Einzelfall einen erheblichen, potentiell auch einem gewissen taktischen Kalkül unterliegenden Spielraum beim Umgang mit den Zulässigkeitsanforderungen.
Teil 2 Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen › C. Die Beschwerdebefugnis › III. Betroffenheit und Beschwer
III. Betroffenheit und Beschwer
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Die Frage der Betroffenheit des Beschwerdeführers bereitet naturgem. dann keine großen Schwierigkeiten, wenn es sich, wie meist, um einen Angriff gegen eine gerichtliche Entscheidung handelt. Gerade im Strafrecht können mit Blick auf die Betroffenheit des Beschwerdeführers durch Normen aber Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen, da das Strafrecht Ge- und Verbote enthält, die grds. von jedermann beachtet werden müssen. Es kann dem Beschwerdeführer zwar auf der einen Seite nicht zugemutet werden, die Verfassungsmäßigkeit einer Strafvorschrift „auf die Probe zu stellen“, indem er gegen sie verstößt. Andererseits muss eine zumindest mögliche Grundrechtsverletzung mehr voraussetzen als die nur latent vorhandene oder entfernte Einwirkung auf den grundrechtssensiblen Bereich, will man nicht faktisch doch eine Popularklage in Strafsachen oder ein vom konkreten Verdacht losgelöstes Gutachten des BVerfG zulassen. Das aber hat der Gesetzgeber aus guten Gründen selbst im Staatsrecht nach einer anfänglichen Experimentierphase (§ 97 BVerfGG a. F.)[34] schon seit 1956 nicht mehr zulassen wollen.
1. Selbstbetroffenheit
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Die Selbstbetroffenheit kann zunächst ganz allgemein in dem Sinne verstanden werden, dass der Beschwerdegegenstand den Beschwerdeführer, in welcher Art und Weise auch immer, „etwas angehen“ oder sich an ihn richten muss. Von behördlichen Maßnahmen und Gerichtsentscheidungen ist deshalb unproblematisch selbst betroffen, wer deren Adressat bzw. als Partei bzw. (im technischen Sinne) Beteiligter dem Rechtsstreit unterworfen ist. [35] Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz, ist Mindestvoraussetzung der Selbstbetroffenheit, dass der Beschwerdeführer Normadressat ist.[36]Dabei muss der Beschwerdeführer vortragen, wie und warum zu befürchten ist, dass er von der Regelung des Gesetzes betroffen ist.[37] Dies kann im materiell-strafrechtlichen Bereich höchstens bei Sonder- oder eigenhändigen Delikten problematisch sein, bei Prozessgesetzen aber valide Abgrenzungsprobleme schaffen (z. B. bei technischen Wohnraumüberwachung, einer Online-Durchsuchung oder Quellen-TKÜ-Maßnahme).
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Neben dem Adressaten können auch Dritte dann selbstbetroffen sein, wenn sie zwar z.B. in einem (Zwangsmittel-)Beschluss nicht bezeichnet worden sind, aber von den Maßnahmen tatsächlich betroffen sind.[38] Auch eine fehlende oder unzureichende Mitteilung und Protokollierung von Verständigungsgesprächen (§ 243 Abs. 4 StPO), die allein einen Mitangeklagten betreffen, mögen wohl in Ausnahmefällen eine Drittwirkung begründen. Diese muss allerdings ausführlich dargelegt werden, weil a limine nicht der Rechtskreis des Beschwerdeführers betroffen ist.[39] Ähnliche verfassungsrechtliche Grundsätze dürften auf Grundlage der etablierten fachgerichtlichen Rechtsprechung etwa auch für Beweisverwertungsverbote gelten.[40]
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Eine Prozessstandschaft, also die Geltendmachung fremder Rechte in eigenem Namen, kommt damit grds. nicht in Betracht.[41] Das BVerfG lässt in Ausnahme zu diesem Grundsatz aber insbesondere Verfassungsbeschwerden der sog. Parteien kraft Amtes zu.[42] Das schafft einige Sonderprobleme:
a) Selbstbetroffenheit des Rechtsanwalts
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Rechtsanwälte können selbstverständlich nicht die Rechte ihrer Mandanten geltend machen. Das BVerfG hat so zu Recht die Selbstbetroffenheit beschwerdeführender Anwälte verneint, die eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte ihrer Mandanten aufgrund der Durchsuchung der Rechtsanwaltskanzlei rügten.[43]
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Etwas anderes gilt dann, wenn der Anwalt in eigenen, ihm z. B. aus Art. 12 Abs. 1 GG zustehenden Rechtspositionen beeinträchtigt sein kann. Eine Selbstbetroffenheit liegt bspw. vor, wenn der Rechtsanwalt im Einzelfall selbst Strafdrohungen wegen Begünstigung, Strafvereitelung oder Geldwäsche[44] ausgesetzt ist oder wegen (vermeintlicher) Beteiligung an einer Tat seines Mandanten vom Verfahren ausgeschlossen wurde.[45] Auch dann, wenn der Anwalt aus eigener Befugnis Rechtsmittel einlegen oder Anträge stellen kann, ist er zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde befugt,[46]