Einführung in die Praxis der Strafverteidigung. Olaf Klemke
Neigung, sich beim Ausleben ihrer erzieherischen Ambitionen durch den überflüssigen Verteidiger stören zu lassen.[46] Sie übersehen hierbei die obergerichtliche Rspr., nach welcher die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO in Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende extensiv auszulegen ist. Hierzu das Saarl. OLG:
„Allerdings ist den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe der „Schwere der Tat“ sowie der „Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage“ Rechnung zu tragen. Jugendliche und ihnen gleichgestellte Heranwachsende sind aufgrund ihrer geringen Lebenserfahrung sowie der psychischen und körperlichen Entwicklungsprozesse, in denen sie sich befinden, zur Wahrnehmung ihrer Interessen in der Regel weit weniger in der Lage als Erwachsene. Es kommt hinzu, dass das JGG für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen (§ 3 JGG), für die Rechtsfolgen (§ 5 JGG) und die Rechtsmittelbeschränkung (§ 55 JGG) komplizierte Sonderregelungen enthält. Es ist daher eine extensive und großzügige Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO zu Gunsten des jugendlichen oder heranwachsenden Angekl. geboten (...).“[47]
Teil 1 Das Mandat des Strafverteidigers › II. Die Pflichtverteidigung › 4. Die Bestellung des Pflichtverteidigers
a) Die Auswahl des Verteidigers
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Nach Erhebung der öffentlichen Klage entscheidet über die Bestellung der Vorsitzende des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist, § 141 Abs. 4 S. 1 StPO. Vor Erhebung der Anklage entscheidet das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Staatsanwaltschaft oder ihre zuständige Zweigstelle ihren Sitz hat oder das Amtsgericht, in dessen Bezirk gerichtliche Vernehmungen und Augenscheinnahmen vorzunehmen sind, § 141 Abs. 4 S. 2, 1. HS i.V.m. § 162 Abs. 1 S. 3 StPO, in Fällen des Haftgrundes der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO) der Haftrichter (§§ 126, 275a Abs. 6 StPO).
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Zwar steht dem Vorsitzenden bei der Bestellung des Verteidigers ein Auswahlermessen zu. Dieses Ermessen ist jedoch pflichtgemäß auszuüben. Maßgebliches Auswahlkriterium ist, dass der Beschuldigte den Beistand eines Verteidigers seines Vertrauens erhält.
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Das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens verteidigen zu lassen, ist nicht nur durch § 137 Abs. 1 StPO und Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK gesetzlich garantiert, sondern zugleich durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verbürgt.[48] Das Rechtsinstitut der Pflichtverteidigung soll die grundsätzliche Gleichstellung des noch nicht verteidigten Beschuldigten mit demjenigen ermöglichen, der sich auf eigene Kosten einen Verteidiger gewählt hat.[49] Dies gebietet bereits das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG, folgt aber auch aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK.[50]
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Um die Bestellung eines Verteidigers zu ermöglichen, welcher das Vertrauen des Beschuldigten genießt, bestimmt § 142 Abs. 1 S. 1 StPO, dass dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben werden „soll“, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen. Entgegen dem Gesetzeswortlaut handelt es sich bei der Einräumung des Bezeichnungsrechtes um eine Pflicht des Vorsitzenden. Anders ließe sich nämlich der verfassungsmäßige Anspruch des Beschuldigten, von einem Verteidiger seines Vertrauens verteidigt zu werden, von vornherein nicht realisieren.[51] Hat der Angeschuldigte zum Zeitpunkt der Erhebung der öffentlichen Klage noch keinen Verteidiger, ist ihm zunächst die Anklageschrift nur formlos mitzuteilen und ihm eine Frist zur Bezeichnung eines Anwaltes seines Vertrauens zu setzen.[52] Fraglich ist, welche Frist zur Bezeichnung des gewünschten Verteidigers angemessen ist. Die Bedenkzeit dürfte regelmäßig mit zwei Wochen zu bemessen sein.[53]
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Hat der Beschuldigte von seinem Bezeichnungsrecht Gebrauch gemacht, bestellt der Vorsitzende den bezeichneten Verteidiger, wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen, § 142 Abs. 1 S. 2 StPO. Ein wichtiger Grund ist nur solcher, der dem Gericht die Befugnis geben würden, einen Wahlverteidiger nach §§ 146a Abs. 1 S. 1, 146 StPO zurückzuweisen oder der einen Ausschluss nach §§ 138a f. StPO begründen würden.[54] Dies ergibt sich aus dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Angeklagte, welchem ein Verteidiger bestellt wird, muss grundsätzlich die gleichen Rechte haben wie derjenige, der sich einen Wahlverteidiger leisten kann.
aa) Interessenkollision als „wichtiger Grund“
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Die Rspr. sieht dies anders. So haben das OLG Frankfurt/M. und der BGH entschieden, dass die Bestellung des vom Beschuldigten vorgeschlagenen Verteidigers zu unterbleiben hat, wenn ein Fall der Wahrnehmung widerstreitender Interessen nach § 43a Abs. 4 BRAO, § 3 BORA vorliegt.[55] Nach Auffassung des OLG Frankfurt/M. ist der Gerichtsvorsitzende nicht grundsätzlich daran gehindert, mehreren Angeklagten, welche derselben Tat beschuldigt werden, Pflichtverteidiger beizuordnen, die in einer Sozietät verbunden sind. Eine Ablehnung der Bestellung der gewünschten Verteidiger ist nur zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie zu einer sachgerechten Verteidigung außer Stande sind, insbesondere ihre Verteidigung grob pflichtwidrig an den Interessen des Mitangeklagten bzw. der Sozietät ausrichten werden. Der BGH hat entschieden, dass die Bestellung des vom Beschuldigten gewünschten Verteidigers nicht allein wegen einer möglichen Interessenkollision abgelehnt werden darf, die sich aus einem Fall sukzessiver Mehrfachverteidigung ergibt. Dies folge aus der Gleichwertigkeit von Wahl- und Pflichtverteidigung, da das Vorliegen einer sukzessiven Mehrfachverteidigung die Zurückweisung eines Wahlverteidigers nach § 146a StPO nicht erlaube. Anderes gelte jedoch in Fällen der konkreten Gefahr einer Interessenkollision.
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Dem ist nicht zu folgen. Es ist Sache des Verteidigers, seinen Berufspflichten, insbesondere dem Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen zu entsprechen und nicht Aufgabe des Gerichts, den Verteidiger dahin zu überwachen. Die Rspr. begründet ihre Ansicht damit, dass die Abberufung des Pflichtverteidigers anders als beim Wahlmandat, welches ohne weiteres entzogen werden könne, ausschließlich in der Hand des Gerichtsvorsitzenden liege. Dies ist so nicht richtig. Das Institut der Pflichtverteidigung soll auch sicherstellen, dass der Beschuldigte von dem Verteidiger seines Vertrauens verteidigt wird. Dieses Zweckes wegen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers dann zurückgenommen werden kann, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Verteidiger gestört ist. Die Rspr. verlangt vom Beschuldigten, substanziiert Tatsachen vorzutragen, die belegen, dass vom Standpunkt eines „vernünftigen und verständigen Beschuldigten“ aus das Vertrauensverhältnis endgültig zerstört ist.[56] Erkennt der Gerichtsvorsitzende die konkrete Gefahr einer Interessenkollision des Pflichtverteidigers, wird er den Beschuldigten und den Verteidiger hierauf hinzuweisen und nachzufragen haben, ob die Bestellung trotz der nahen Gefahr einer Interessenkollision bestehen bleiben soll. Bittet auch nur einer von beiden um die Rücknahme der Bestellung, hat der Gerichtsvorsitzende dem nachzukommen. Der substanziierten Darlegung der Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses bedarf es dann nicht. Die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses ist beim Vorliegen der konkreten Gefahr einer Interessenkollision und dem gleichzeitigen – auch einseitigen – Begehren auf Auswechslung des Pflichtverteidigers unwiderlegbar zu vermuten. Wünschen hingegen Beschuldigter und Verteidiger, die Bestellung aufrechtzuerhalten, muss der Vorsitzende dem entsprechen. Allerdings wird er i.d.R. Anlass haben, einen zweiten Verteidiger, einen sog. „Sicherungsverteidiger“, zu bestellen. Die hier vorgeschlagene Verfahrensweise trägt im Unterschied zu autoritären Vorstellungen der Rechtsprechung vom Institut der Pflichtverteidigung der Autonomie des Beschuldigten und seiner Verteidigung hinreichend Rechnung.