Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
voraus, so führt der Irrtum über die Existenz und den Inhalt dieser Anordnung völlig unstreitig zum vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gem. § 16 Abs. 1 StGB (bzw. § 11 Abs. 1 OWiG)[160]. Die Privilegierung gegenüber dem Täter, der über abstrakt-generelle Normen irrt (Rn. 35), hat nichts mit einer generell größeren Verzeihlichkeit der Unkenntnis einer hoheitlichen Verfügung zu tun. Eher ist das Gegenteil der Fall: Ein Verkehrszeichen oder eine persönlich zugestellte Einzelverfügung dürfte in der Regel viel leichter wahrnehmbar sein und normalerweise auch weit stärker ins Bewusstsein des Bürgers dringen, als ein im Bundesgesetzblatt verkündetes Gesetz[161]. Der Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Auflehnung gegen die Rechtsordnung ist hier deshalb mit Vorsatz und Nichtvorsatz gleichzusetzen, weil bei den maßgeblichen Tatbeständen, sei es § 327 StGB, § 1 Abs. 1 Nrn. 1–4 WiStG oder gar §§ 19 f. WehrStG, vom Bürger Loyalität und Gehorsam als solcher gefordert wird. Eine eigenständige Subsumtion des Lebenssachverhalts durch den Bürger unter die Ermächtigungsgrundlage findet nicht statt (vgl. Rn. 45). Von vorsätzlichem Ungehorsam kann nur dann die Rede sein, wenn der Bürger die Verfügung kennt.
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Soweit der Einzelakt selbst keine Regelung trifft und die Rechtsanwendung dem Bürger überlassen bleibt, liegt allerdings nur ein Verbotsirrtum gem. § 17 StGB (bzw. § 11 Abs. 2 OWiG) vor, unstreitig etwa dann, wenn sich der Bürger über seine Gehorsamspflicht als solche irrt. Denkbar wäre auch, dass der Adressat lediglich über die Verbindlichkeit im Einzelfall irrt: Er könnte z.B. glauben, seine Beschwerde gegen ein vorläufiges Berufsverbot gem. § 132a StPO habe (entgegen § 307 Abs. 1 StPO) aufschiebende Wirkung, oder ihm sind die Rechtsfolgen von § 80 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1–3 VwGO unbekannt. Entgegen der wohl h.M.[162] liegt auch hier nur ein Verbotsirrtum vor, denn der Bürger irrt in Kenntnis des Einzelaktes lediglich über dessen gesetzlich bestimmte Vollziehbarkeit[163]. Ist dem Bürger die Existenz des belastenden Hoheitsakts vollauf bewusst, hat er genügend Anlass, sich darüber zu informieren, inwieweit ihn zum maßgeblichen Zeitpunkt Gehorsamspflichten treffen. Auch verfügt er insofern regelmäßig über die für die Rechtsanwendung notwendigen Tatsachenkenntnisse. Hängt der Sofortvollzug allerdings von einer ausdrücklichen Anordnung ab, etwa bei § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO, greift bei Unkenntnis (z.B. durch unaufmerksames Lesen des Bescheids) wiederum § 16 Abs. 1 StGB (bzw. § 11 Abs. 1 OWiG)[164]. Die gleiche Abgrenzung sollte bei standardisierten Verwaltungsakten Anwendung finden: Wer ein Verkehrszeichen übersieht, handelt zwar fahrlässig, wer aber glaubt, ein optisch richtig wahrgenommenes Stoppschild gewähre Vorfahrt, befindet sich lediglich im (vermeidbaren) Verbotsirrtum[165]. Insoweit fordert der Gesetzgeber eben eine eigenverantwortliche Subsumtion durch den Verkehrsteilnehmer.
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Bei Genehmigungen und Hoheitsakten, die die Strafbarkeit ausschließen, kommen die eben aufgestellten Regeln entsprechend zur Anwendung[166]. Nimmt der Täter irrig an, er verfüge tatsächlich über die erforderliche behördliche Erlaubnis, die ihm auch nicht auf irgendeine Weise wieder entzogen wurde, oder glaubt er an eine einem Dritten erteilte Genehmigung, z.B. im Falle von § 404 Abs. 1 Nr. 1 SGB III an das Vorliegen eines Aufenthaltstitels oder im Falle von § 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG an das Vorliegen einer Fahrerlaubnis, schließt dies gem. § 16 Abs. 1 StGB (bzw. § 11 Abs. 1 OWiG) den Vorsatz aus. Dabei sind allerdings Fahrlässigkeitsstrafbarkeiten zu beachten, etwa in § 21 Abs. 2 Nr. 1 StVG. Handelt der Täter rechtswidrig und glaubt dabei, über eine Erlaubnis zu verfügen, die so oder in dieser Reichweite gar nicht erteilt werden kann, liegen weder Tatbestands- noch Erlaubnistatbestandsirrtum vor, sondern ein Doppelirrtum, mit dem nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 17 StGB zu verfahren ist. Bei Unkenntnis der öffentlich-rechtlichen Genehmigungspflicht
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 4 Anknüpfung des Strafrechts an außerstrafrechtliche Normen › D. Rechtsnormative Tatbestandsmerkmale
I. Erscheinungsformen und Gesetzlichkeitsprinzip
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Während bei echten Blanketten das Zusammenlesen mit der ausfüllenden Norm dazu führt, dass der Normadressat den vorgefundenen Lebenssachverhalt vollständig unter den Gesamttatbestand subsumieren muss (oben Rn. 7, 35), wird bei Tatbeständen, soweit sie rechtsnormative Tatbestandsmerkmale enthalten, eine bestimmte (i.d.R. außerstrafrechtliche) Rechtsfolge oder ein bestimmtes Rechtsverhältnis zum Tatumstand[175]. Der Unterschied zu Merkmalen, die auf Einzelakte Bezug nehmen (oben Rn. 37), liegt darin, dass die Rechtsverhältnisse nicht durch Hoheitsakt begründet werden. Aber auch hier müssen der Straftatbestand und das Merkmal selbst den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots in Art. 103 Abs. 2 GG genügen, nicht jedoch die Vorschriften die dem jeweils geforderten Rechtsverhältnis vorgelagert sind. So erklärt sich nebenbei, dass rechtsnormative Merkmale niemals ausdrücklich, wie es bei Blankettnormen regelmäßig der Fall ist, auf andere Gesetze verweisen.
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Beispielweise richtet sich die Fremdheit einer Sache beim Diebstahl oder der Unterschlagung gem. §§ 242, 246 StGB nach dem einschlägigen Bürgerlichen Recht. Eigentum spielt in der sozialen Wirklichkeit eine eigenständige Rolle; es tritt meist durch unmittelbare oder mittelbare Besitzverhältnisse, Urkunden, Grundbucheinträge etc. nach außen in Erscheinung. An den tatsächlichen Hintergründen des Eigentumserwerbs und den zugehörigen zivilrechtlichen Grundlagen hat der Täter regelmäßig kein Interesse; er wird sie auch faktisch nicht in Erfahrung bringen können. Entsprechend müssen die dem Rechtsverhältnis vorgelagerten Vorschriften auch nicht den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen[176]. Für den Strafrichter entfällt ferner die zwingende Bindung an den Gesetzeswortlaut; eine analoge Gesetzesanwendung im Vorfeld eines rechtsnormativen Tatumstands ist also möglich, z.B. die Berücksichtigung einer Eigentumsübertragung gem. § 929 BGB im Wege des Geheißerwerbs. Alles andere wäre in der Lebenswirklichkeit auch kaum praktikabel, wenn durch unterschiedliche Anforderungen zwischen strafrechtlich geschütztem und nur zivilrechtlich anerkanntem, aber eben nicht diebes- und unterschlagungssicherem Eigentum unterschieden werden müsste. Die gleichen Grundsätze gelten für die Rechtswidrigkeit der Zueignung und die Frage, ob ein schuldrechtlicher Anspruch besteht. Die §§ 242, 246 StGB schützen den