Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
getroffen. Wertungen müssen freilich nicht stets positiv sein, sondern können auch negativ ausfallen, etwa dann, wenn wir einen Menschen gegenüber einem anderen vorziehen, weil wir letzteren als „unhöflich“ oder „unangenehm“ bewerten.
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Wertungen sind nicht an bestimmte Sprachformen gebunden; sie können durch Interjektionen wie „Pfui“ oder „Bravo“ und auch in der Gestik oder Mimik ebenso ausgedrückt werden wie durch Worte („gut“, „schlecht“, „wunderbar“, „hässlich“ oder „entsetzlich“).[116] Wertungen lassen sich auch durch vollständige Sätze ausdrücken, etwa in der Form „Dieses Bild ist wunderschön“ oder „Die Handlung von A war schlecht“. In beiden Sätzen tritt die Wertung in Form eines Urteils auf, gleicht also im Hinblick auf ihre Oberflächengrammatik den Tatsachenurteilen bzw. Tatsachenaussagen.[117]
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Wie die Beispiele zeigen, spielen Wertungen in vielen Bereichen des menschlichen Lebens eine Rolle. Besonders wichtig sind Wertungen in der Moral, deren Grundcode „gut“ und „böse“ ist, und der Ästhetik, die nach dem basalen Code „schön“ und“ hässlich“ bewertet. Akteure der Wertung sind menschliche Individuen, die dabei allerdings nicht völlig frei und unberechenbar handeln, sondern durch ihre Kultur und persönliche Sozialisation geprägt sind. Individuen werten also in aller Regel nicht willkürlich oder beliebig, sondern folgen einem Muster, welches einen wesentlichen Bestandteil des Charakters eines Menschen bildet.[118]
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Das dem Wertungsverhalten von Menschen zugrunde liegende Muster wird oft von anderen Menschen geteilt. Nur so ist es zu erklären, dass sich die Wertungen so vieler Menschen stark ähneln. Es gibt ein gleichförmiges gruppenspezifisches Wertverhalten (etwa wenn innerhalb eines Fußballklubs bestimmte Spieler besonders positiv bewertet werden), aber auch gemeinsame Wertungen, die bestimmte Alterskohorten, politische Parteien oder religiöse Gruppen auszeichnen. Selbst auf nationaler Ebene finden sich häufig charakteristische Wertungen, wenngleich z.B. die Rede von einem „deutschen“ oder „französischen“ Nationalcharakter nicht erst in Zeiten der Globalisierung problematisch geworden ist.[119]
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Vergrößert man den Blickwinkel noch weiter, so stößt man auf Wertungsähnlichkeiten, aber auch auf Wertungsunterschiede ganzer Kulturen bzw. Kulturräume. So wird etwa die Rolle des Individuums in Europa und den USA anders bewertet als in Ostasien. Weitere Beispiele für offenbar kulturspezifische Wertungen sind die Vorstellungen über persönliche Verantwortung, Freiheit (unter Einschluss der Vertragsfreiheit), den Wert des Lebens, Privatheit und Eigentum.[120]
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Besonders interessant sind universelle Wertungen, d.h. Wertungen, die bei allen Menschen in mehr oder weniger ähnlicher Form auftreten. Beispiele hierfür sind etwa die negative Bewertung von Hunger oder Schmerz, von willkürlichen Körperverletzungen oder von Tötungshandlungen. Es spricht viel dafür, dass sich derartige universell auffindbare Wertungen auf biologische Grundbedürfnisse (nach Nahrung, Wohlbefinden usw.) zurückführen lassen. Sie sind also sozusagen in der Natur des Menschen begründet.[121] Viele dieser universellen Wertungen scheinen negativer Natur zu sein, d.h. Menschen sind sich jedenfalls darin einig, was sie ablehnen. Universell auftretende Wertungen können eine Basis für das Konzept universeller Werte bilden.[122]
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Werte sind das Ergebnis von Wertungen; sie entstehen aus menschlichen Wertungen im Wege der Abstraktion. Die Rede von „Werten“ setzt also grundsätzlich theoretische Anstrengungen voraus. Werte bezeichnen das, was in ähnlichen Wertungssituationen die positive oder negative Wertung begründet. Wer etwa nachbarschaftliche Hilfe positiv bewertet, für den ist Nachbarschaftshilfe ein (positiver) Wert. Wird die Wertung von vielen Menschen geteilt, so handelt es sich nicht nur um einen individuellen, sondern um einen überindividuellen Wert. Was oben Rn. 50 f. von individuellen, gruppenspezifischen, gesellschaftlichen usw. Wertungen gesagt wurde, gilt auch für die sich daraus ergebenden Werte.
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Werte besitzen eine Vielzahl von sozialen Funktionen für die Individuen und Gruppen, die sie generieren.[123] Eine der wichtigsten Leistungen von Werten ist ihre Orientierungsfunktion. In diesem Sinne definiert Hillmann: Ein „soziokultureller Wert… ist eine grundlegende, zentrale, allgemeine Zielvorstellung und Orientierungsleitlinie für menschliches Handeln und soziales Zusammenleben innerhalb einer Subkultur, Kultur, oder sogar im Rahmen der Menschheit.“[124] Ähnlich formulieren Gensicke und Neumaier: „Werte sind allgemeine und grundlegende Orientierungsstandards, die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und auf kollektiver Ebene Vorgaben machen und dabei explizit artikuliert oder implizit angenommen werden.“[125]
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Da sich Menschen in ihren Wertungen stark ähneln, existieren auch zahlreiche gemeinsame überindividuelle Werte, die sich freilich in der Reichweite ihrer Akzeptanz unterscheiden (z.B. gruppen- und schichtspezifische, gesellschaftliche usw. Werte). Für wichtige gesellschaftliche Teilbereiche, etwa das Wirtschaftsleben,[126] werden besondere Werte reklamiert. Auch universale Werte wie Freundlichkeit oder Hilfsbereitschaft sind keineswegs selten. Die modische Betonung von kulturellen Divergenzen übersieht, dass sich Menschen weltweit in zahlreichen ihrer Grundwertungen stark ähneln.[127] Hierin zeigt sich unsere gemeinsame biologische Herkunft als Mitglieder der „Menschheitsfamilie“.[128]
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Neben der Identifizierung allgemeiner, womöglich sogar universeller Wertgrundlagen existiert noch ein zweiter Weg, um mit der Relativität und Partikularität sozialer Normierungen, Wertsetzungen und Werte rational umgehen zu können: die wissenschaftliche Erfassung und Analyse unseres Wertungsverhaltens.[129] Sie zeigt uns, welche Faktoren unsere Normen und Werte bestimmen, und ermöglicht uns so, uns von unseren normativen Konstrukten kognitiv, aber auch emotional zu distanzieren. Damit werden wir in die Lage versetzt, normativierende Prozesse, die sonst oft unbewusst ablaufen, auch und gerade im Zusammenhang mit Wertkonflikten, ins Bewusstsein zu heben und kritisch zu prüfen.[130] Aus der Distanzierung und Versachlichung entsteht die Fähigkeit, zu unseren eigenen Normen und Werten kritisch Stellung zu beziehen und sie u.U. zu ändern.
III. Grenzziehungen
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Die erarbeitete Begrifflichkeit erlaubt es, einige Grenzziehungen durchzuführen. Vor allem der Unterschied zwischen Normen und Werten lässt sich nun deutlicher ausarbeiten. Werte beruhen auf Wertungen, und in Wertungen drücken sich die in einer Gesellschaft geltenden sozialen Normen aus. Damit wird deutlich, dass nicht nur zwischen den Begriffen „Wert“ und „Wertung“, sondern auch zwischen „Wert“ und „Norm“ Gemeinsamkeiten, aber eben auch Unterschiede bestehen. Es wäre deshalb verfehlt, die Begriffe gleichzusetzen. Eine Norm bezieht sich auf ein erwünschtes menschliches Verhalten; sie tritt auf als Gebot, Verbot oder Erlaubnis. Dagegen bezeichnet der Ausdruck „Wert“ Vorstellungen von Wünschenswertem,[131] die nicht einmal zwingend mit menschlichem Verhalten zu tun haben müssen, man denke nur an Werte wie Schönheit oder Gesundheit.
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Recht beruht auf Werten und damit letztlich auf Wertungen. Die Metapher vom „Beruhen“ kann instrumentell[132] gedeutet werden: Gerade gesetztes Recht lässt sich am ehesten als Mittel deuten, bestimmte Werte zu realisieren. So dient etwa das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz, eine Norm wie § 212 StGB dem Schutz des Rechtsgutes „Leben“ usw. Die Rechtsgüter selbst sind als rechtlich geschützte Werte[133] anzusehen. Dies macht deutlich, wie sehr Recht auf menschlichen Setzungen beruht. Die Rede von einem „objektiven Recht“ in einem erkenntnistheoretischen Sinn ist also genauso irreführend wie die Rede von angeblich „objektiven Werten“.[134]
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